Prof. Dr. Stefan Schneider
Leitsatz
Eine auswärtige (Groß-)Baustelle ist keine regelmäßige Arbeitsstätte i.S.d. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG, auch wenn sie der Arbeitnehmer fortdauernd und immer wieder aufsucht.
Normenkette
§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG, § 12 Satz 2 AO
Sachverhalt
K war auf einer Tunnelbaustelle beschäftigt. Arbeitgeber war eine Arbeitsgemeinschaft (ARGE) mit Sitz (Baubüro) in C. Der Arbeitsvertrag war befristet für die Zeit vom 14.8.2006 bis 30.6.2008, vereinbarter Dienstort war die Baustelle in C. Später wurde das Arbeitsverhältnis unbefristet bis zum Ende der Betonarbeiten des Bauvorhabens in C fortgeführt. K machte die Fahrten zwischen seiner Wohnung in F und der Baustelle in C mit den tatsächlichen Fahrtkosten (0,30 EUR pro gefahrenem Kilometer) als Werbungskosten geltend. Das FA und auch das FG (FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 7.5.2013, 11 K 11138/11, Haufe-Index 5670926, EFG 2014, 28) berücksichtigten lediglich die Entfernungspauschale als Werbungskosten.
Entscheidung
Der BFH hob die Vorentscheidung auf und gab der Klage statt.
Hinweis
Wieder einmal ging es um die Frage, ob der Beschäftigungsort des Arbeitnehmers eine regelmäßige Arbeitsstätte (ab 2014: "erste Tätigkeitsstätte") ist, sodass dessen Aufwendungen für die Wege dorthin und zurück nur eingeschränkt nach Maßgabe der Entfernungspauschale (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG) als Werbungskosten zu berücksichtigen sind.
1. Eine regelmäßige Arbeitsstätte kann nur eine ortsfeste, dauerhafte betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers sein, der der Arbeitnehmer zugeordnet ist und die er nicht nur gelegentlich, sondern mit einer gewissen Nachhaltigkeit, d.h. fortdauernd und immer wieder (dauerhaft) aufsucht. Typischerweise handelt es sich dabei um den Betrieb des Arbeitgebers oder einen Zweigbetrieb, nicht aber um die Tätigkeitsstätte in einer betrieblichen Einrichtung des Kunden des Arbeitgebers. Das ist die ständige Rechtsprechung des Lohnsteuersenats zum Tatbestand der regelmäßigen Arbeitsstätte (zuletzt z.B. BFH, Urteil vom 8.8.2013, VI R 72/12, BFH/NV 2014, 87, BFH/PR 2014, 42). Ein wesentliches Merkmal der regelmäßigen Arbeitsstätte ist danach die dauerhafte betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers; fehlt es daran, liegt meist eine Auswärtstätigkeit vor. Die Aufwendungen für Fahrten dorthin sind als Kosten für beruflich veranlasste Fahrten gem. § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG uneingeschränkt als Werbungskosten zu berücksichtigen.
2. Nach Maßgabe dieser Rechtsgrundsätze ging der BFH hier abweichend von der Vorinstanz nicht von einer regelmäßigen Arbeitsstätte i.S.d. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG aus. Denn schon die Art des Tätigkeitsorts – Baustellen, Montageorte; vgl. "Montagen", § 12 Satz 2 AO – ist bei typisierender Betrachtung vorübergehend und nicht dauerhaft. Derartige Tätigkeitsorte erfüllen nicht die Anforderungen an eine regelmäßige Arbeitsstätte i.S.v. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG. Für den einkommensteuerrechtlichen Tatbestand der regelmäßigen Arbeitsstelle ist es weiter unerheblich, ob sich an diesem Ort eine Betriebsstätte oder Geschäftseinrichtung des Arbeitgebers (§ 12 Satz 2 AO) befindet (BFH, Urteil vom 11.7.2013, VI R 62/12, BFH/NV 2014, 147). Die Größe der Baustelle ist ebenfalls unerheblich; also auch Großbaustellen begründen keine regelmäßige Arbeitsstätte. Entsprechendes gilt für die Frage, welche Infrastrukturen der Arbeitgeber dort vorhält. Denn der Lohnsteuersenat fordert zwar für eine regelmäßige Arbeitsstätte ein Mindestmaß an Infrastruktur (BFH, Urteil vom 17.6.2010, VI R 20/09, BFH/NV 2011, 111, BFH/PR 2011, 44); im Umkehrschluss bedeutet das aber nicht, dass bei entsprechend umfangreich vorgehaltener Infrastruktur schon stets eine regelmäßige Arbeitsstätte vorliegt. Auch der Umstand, dass der Arbeitnehmer die Baustelle fortdauernd und immer wieder (dauerhaft) aufsucht, ist eine notwendige, aber nicht schon hinreichende Bedingung für eine regelmäßige Arbeitsstätte. Deshalb wird auch eine auswärtige Tätigkeitsstätte nicht durch bloßen Zeitablauf zu einer regelmäßigen Arbeitsstätte i.S.v. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG (vgl. BFH/PR 2014, 42).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 20.3.2014 – VI R 74/13