Leitsatz
1. Zahlt die Familienkasse Kindergeld rechtsgrundlos an das Kind auf Anweisung des Kindergeldberechtigten aus, ist nur der Kindergeldberechtigte Rückforderungsschuldner.
2. Die Erfüllungszuständigkeit für erhaltenes Kindergeld ändert sich von der Person des Kindergeldberechtigten auf einen Dritten erst nach einer Entscheidung über eine Auszahlung nach § 74 Abs. 1 EStG. Der Abzweigungsbescheid stellt einen für den Empfänger begünstigenden und einen für den Kindergeldberechtigten belastenden Verwaltungsakt mit Doppelwirkung dar (vgl. Rechtsprechung).
3. Das bloße Bestehen einer Abzweigungslage ohne Vorliegen eines Abzweigungsbescheids lässt die Empfangsberechtigung des Kindergeldberechtigten unberührt (vgl. Rechtsprechung).
Normenkette
§ 74 Abs. 1, Abs. 2, § 31 Satz 3 EStG, § 37 Abs. 2, § 227 AO, § 104, § 107 SGB X
Sachverhalt
Die Betreuerin der Klägerin stellte in deren Namen im Oktober 2016 einen Kindergeldantrag für die 1971 geborene Tochter T, deren Behinderung vor dem 25. Lebensjahr eingetreten war. Das Kindergeld sollte direkt an T ausgezahlt werden, die den Antrag auch unterschrieben hatte.
T erhielt von dem beigeladenen Jobcenter Leistungen nach dem SGB II ohne Anrechnung von Kindergeld. Die Berechnungsbögen über Sozialleistungsbezüge übermittelte das Jobcenter der Familienkasse am 19.12.2016.
Am 13.3.2017 setzte die Familienkasse gegenüber der Klägerin für T Kindergeld für Januar 2012 bis März 2017 fest, das diese wunschgemäß an T überwies.
Mit Fax vom 15.3.2017 wies die Betreuerin die Familienkasse und das Jobcenter darauf hin, dass das festgesetzte Kindergeld an das Jobcenter zu erstatten sei, und bat, das Kindergeld nicht an T auszuzahlen. Die Kassenanordnung der Familienkasse für die Auszahlung an T datierte jedoch bereits vom 6.3.2017.
Mit Schreiben vom 19.9.2017 machte das Jobcenter einen Erstattungsanspruch i.H.v. 10.912,29 EUR gegenüber der Familienkasse geltend, den die Familienkasse sodann auszahlte und gemäß § 218 Abs. 2 i.V.m. § 37 Abs. 2 AO von der Klägerin zurückforderte.
Die Klage hatte Erfolg (Niedersächsisches FG, Urteil vom 15.3.2019, 2 K 65/18, Haufe-Index 14058290, EFG 2020, 1482). Das FG vertrat die Ansicht, die Klägerin sei nicht die Leistungsempfängerin.
Entscheidung
Die Revision der Familienkasse führte zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Abweisung der Klage. Die Klägerin bleibt auf das Billigkeitsverfahren verwiesen.
Hinweis
Die Klägerin war Rückforderungsschuldnerin des auf ihre Weisung an ihre Tochter ausgezahlten Kindergelds, weil diese zuvor Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II erhalten hatte, wodurch der Kindergeldanspruch der Klägerin erfüllt und somit erloschen war (§ 47 AO). Das ergibt sich aus § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 104 Abs. 1, § 107 Abs. 1 SGB X.
1. Der Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Jobcenters gegenüber der Familienkasse war nicht nach § 104 Abs. 1 SGB X ausgeschlossen, denn die Familienkasse hatte zum Zeitpunkt der Zahlung des Kindergelds an die Tochter bereits ausreichende Kenntnis davon, dass der Anspruch der Klägerin in Höhe der SGB-II-Leistungen für den Streitzeitraum erloschen war, weil das Jobcenter vor der Zahlung die für den Streitzeitraum maßgeblichen Berechnungsbögen für die erbrachten Sozialleistungen übermittelt hatte.
2. Die Klägerin ist Leistungsempfängerin des danach ohne Rechtsgrund auf das Konto der Tochter gezahlten Kindergelds (§ 37 Abs. 2 AO), obwohl die Voraussetzungen einer Abzweigung vorlagen (§ 74 Abs. 1 EStG). Denn der Zahlungsempfänger wird zum Leistungsempfänger erst dann, wenn die Abzweigung als Verwaltungsakt bestandskräftig ist (§ 118 AO). Erst mit der Entscheidung über die Abzweigung muss sich der Kindergeldberechtigte die abgezweigte Leistung als Erfüllung seines weiter bestehenden Kindergeldanspruchs zurechnen lassen und der Abzweigungsempfänger darf die Leistung mit Erfüllungswirkung in Empfang nehmen. Das bloße Bestehen einer Abzweigungslage ohne Vorliegen eines Abzweigungsbescheids lässt die Empfangsberechtigung des Kindergeldberechtigten im Auszahlungsverfahren (Erhebungsverfahren) unberührt.
3. Die Rückforderung war nicht nach Treu und Glauben verwirkt, denn es fehlte ein besonders eindeutiges Verhalten der Familienkasse, dem entnommen werden konnte, dass sie auch unter Berücksichtigung veränderter Umstände von einem Fortbestehen des Kindergeldanspruchs ausging.
4. Da es sich bei dem Rückforderungsanspruch nicht um einen Schadensersatzanspruch handelt, kommt es auf ein mitwirkendes Verschulden der Familienkasse nicht an. Deren Verhalten kann lediglich bei einer Billigkeitsentscheidung gemäß § 227 AO berücksichtigt werden. Auch etwaige persönliche Billigkeitsgründe sind für die Rechtmäßigkeit des Abrechnungsbescheids (§ 218 Abs. 2 i.V.m. § 37 Abs. 2 AO) unerheblich.
5. Das Ergebnis ist überaus unbefriedigend: Die hoch betagte und betreute Klägerin büßt für grobe Bearbeitungsfehler der Familienkasse und muss Kindergeld zurückzahlen, das sie nie für sich beansprucht und auch nie selbst erha...