Prof. Dr. Heinz-Jürgen Pezzer
Leitsatz
1. Bei der Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten ist zwischen der Wahrscheinlichkeit des Bestehens der Verbindlichkeit und der Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Inanspruchnahme hieraus zu unterscheiden, da die beiden Voraussetzungen innewohnenden Risiken unterschiedlich hoch zu bewerten sein können.
2. Der Steuerpflichtige kann nach den Umständen des Einzelfalls nicht verpflichtet sein, eine Rückstellung für eine ungewisse Verbindlichkeit wegen eines gegen ihn geführten Klageverfahrens zu bilden, wenn nach einem von fachkundiger dritter Seite erstellten Gutachten sein Unterliegen im Prozess am Bilanzstichtag nicht überwiegend wahrscheinlich ist.
3. Der Grundsatz der Gesamtgewinngleichheit gebietet, dass eine Personengesellschaft, die gemäß § 4 Abs. 1 UmwStG an einen unzutreffenden Bilanzansatz in einer steuerlichen Schlussbilanz der übertragenden Kapitalgesellschaft gemäß § 3 Satz 1 UmwStG gebunden ist, diesen Bilanzierungsfehler beim Wechsel der Gewinnermittlungsart gewinnneutral korrigieren kann, wenn er sich bislang steuerlich nicht ausgewirkt hat.
Normenkette
§ 4 Abs. 1 Satz 1, § 4 Abs. 3, § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG, § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB, § 3 Satz 1 und Satz 3, § 4 Abs. 1, § 4 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 UmwStG, Art. 3 Abs. 1 GG
Sachverhalt
Die Klägerin, eine Steuerberatungskanzlei in der Rechtsform einer Partnerschaftsgesellschaft, wurde durch Verschmelzung im Wege der Neugründung durch Übertragung des Vermögens der O‐AG zu Buchwerten gegründet. Der Verschmelzung wurde die Bilanz der O‐AG zum 31.12.2003 als Schlussbilanz zugrunde gelegt. Der 31.12.2003 bildete zugleich den steuerlichen Übertragungsstichtag. Die Klägerin übernahm die Buchwerte aus der Schlussbilanz der O‐AG. Eine eigene Eröffnungsbilanz erstellte sie nicht, sondern ging zum 1.1.2004 unmittelbar zur Gewinnermittlung durch Einnahmenüberschussrechnung nach § 4 Abs. 3 EStG über. Sie knüpfte in ihrer Überleitungsrechnung an die Schlussbilanz der O‐AG an und ermittelte wegen des Wechsels der Gewinnermittlungsart einen Überleitungsverlust.
Streitig war die Beurteilung des folgenden Sachverhalts:
Die O-AG war vor der Verschmelzung Beklagte eines Prozesses, in dem es um die Rückzahlung eines angeblich unwirksam vereinbarten Beratungshonorars ging. Dieser Prozess wurde später (nach dem Bilanzstichtag) durch einen Vergleich beendet.
Ende 2003 gab die O‐AG auf Verlangen ihrer Hausbank ein Gutachten über die Erfolgsaussichten der Klage bei einer Rechtsanwaltskanzlei in Auftrag, welche nach Prüfung aller Anspruchsgrundlagen zu dem Ergebnis kam, ein Unterliegen der O‐AG sei nicht überwiegend wahrscheinlich. Es sei daher vertretbar, in der Bilanz zum 31.12.2003 keine Rückstellung gemäß § 249 HGB zu bilden. Die Bilanz der O‐AG auf den 31.12.2003 enthielt dementsprechend keine Rückstellung wegen einer ungewissen Verbindlichkeit.
Das FA vertrat hingegen nach einer Außenprüfung die Auffassung, die O-AG habe eine solche Rückstellung bilden müssen. Dadurch erhöhte sich der Verlust der O‐AG für 2003. Korrespondierend dazu erhöhte das FA bei der Klägerin als übernehmende Rechtsträgerin im geänderten Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung der Besteuerungsgrundlagen für das Streitjahr 2004 die Einkünfte aus selbstständiger Arbeit um 467.065 EUR, da im Rahmen der Überleitungsrechnung wegen des Wechsels der Gewinnermittlungsart die Rückstellung gewinnerhöhend aufzulösen sei.
Einspruch und Klage blieben erfolglos (Schleswig-Holsteinisches FG, Urteil vom 25.9.2012, 3 K 77/11, Haufe-Index 3441744, EFG 2013, 11).
Entscheidung
Auf die Revision der Klägerin hob der BGH die Vorentscheidung auf und gab der Klage statt.
Das FG habe die Pflicht der O‐AG zur Rückstellungsbildung zu Unrecht aufgrund des zum Bilanzstichtag anhängigen Passivprozesses bejaht. Die O‐AG habe im Rahmen ihrer Prognoseentscheidung auf das innerhalb des Wertaufhellungszeitraumes zur Erstellung der Bilanz zum 31.12.2003 eingeholte Rechtsgutachten der Rechtsanwaltskanzlei vertrauen und deshalb davon ausgehen dürfen, dass ihr Unterliegen im Prozess und damit das Bestehen der Verbindlichkeit nicht überwiegend wahrscheinlich sei. Hinzu komme, dass das besagte Gutachten auf Betreiben der finanzierenden Bank, eines fremden Dritten, eingeholt worden sei.
Der erst im Mai 2004 zwischen den Parteien des Rechtsstreits geschlossene Vergleich sei als wertbegründende Tatsache bei der Prognoseentscheidung zum 31.12.2003 nicht zu berücksichtigen.
Das FA habe den Gewinn der Klägerin zu Unrecht um 467.065 EUR aufgrund eines Korrekturpostens für die Auflösung der Rückstellung erhöht. Dieser fehlerhafte Ansatz könne im Rahmen der Übergangsgewinnermittlung der Klägerin im Streitjahr korrigiert werden. Zwar sei ein gewinnwirksamer Bilanzierungsfehler grundsätzlich gewinnwirksam im ersten noch änderbaren Veranlagungszeitraum zu korrigieren. Wenn sich ein solcher Bilanzierungsfehler steuerlich bislang nicht ausgewirkt habe, sei der fehlerhafte Bilanzansatz unter Durchbrechung des formellen ...