a) Urteil Senatex
Keine Rückwirkung lt. BFH: Die vorstehenden Fragen i.Z.m. § 17 Abs. 1 UStG müssen aber u.E. gar nicht abschließend diskutiert werden, da die Neutralität durch die rückwirkende Korrektur des Steuerbetrags beim Leistenden gewährleistet wird. Zwar hat der BFH bislang die rückwirkende Korrektur einer Rechnung im Fall des § 14c Abs. 1 UStG nicht anerkannt. Dies wird mit dem vorgenannten Verweis in § 14c Abs. 1 UStG auf § 17 Abs. 1 UStG begründet.
Anders EuGH: Dieser Ablehnung der Rückwirkung steht aber die Senatex-Rechtsprechung des EuGH entgegen. Aus der Rechtsprechung des EuGH (und ihm folgend des BFH) ergibt sich nämlich, dass Rechnungen rückwirkend korrigiert werden können. Dies hat der EuGH zwar bisher explizit nur für die Situation entschieden, in der die in Rechnung gestellte Steuer aufgrund einer erbrachten Leistung geschuldet wurde. Es sind aber keine Gründe ersichtlich, die dagegensprechen, dass diese Grundsätze nicht auch für die Fälle der Korrektur einer Rechnung gelten, in denen die Steuer allein deswegen geschuldet wird, weil sie in der Rechnung ausgewiesen ist. Beide Situationen sind vergleichbar und die Zugrundelegung der vom EuGH im Senatex-Urteil herausgearbeiteten Grundsätze führt in beiden Fällen zu einem dem Neutralitätsgrundsatz entsprechenden Ergebnis.
b) Begründung des EuGH
Vollständige Entlastung ...: So führte der EuGH im Senatex-Urteil als wesentliches Argument für die Rückwirkung der Korrektur an, dass der Gleichlauf von Steuerzahlung durch den Leistenden und Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers gewährleisten soll, dass der Unternehmer (hier: Leistungsempfänger) vollständig von der im Rahmen aller seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet wird.
... würde wg. Zinsen verfehlt: Würde eine Rechnungskorrektur nicht zurückwirken, müsste der Leistungsempfänger die ursprünglich geltend gemachte Vorsteuer zurückzahlen und im Zeitpunkt des Erhalts der korrigierten Rechnung erneut geltend machen. Auf die zurückzuzahlende, ursprünglich geltend gemachte Vorsteuer wären Zinsen zu zahlen. Damit würden die wirtschaftlichen Tätigkeiten "mit einer aus der Mehrwertsteuer resultierenden steuerlichen Belastung" (nämlich den Zinsen) belegt, obwohl das gemeinsame Mehrwertsteuersystem die Neutralität dieser Steuer garantiere.
c) Geltung auch in § 14c-Fällen
Gleiche Situation: Entsprechendes gilt für die Korrektur der Steuerschuld nach § 14c Abs. 1 UStG. Wird nämlich der Vorsteuerabzug des (gutgläubigen) Leistungsempfängers rückwirkend versagt und ist der Rückzahlungsbetrag gem. § 233a AO zu verzinsen, werden die wirtschaftlichen Tätigkeiten genauso "mit einer aus der Mehrwertsteuer resultierenden steuerlichen Belastung" belegt, wie im Fall Senatex. Es ist nicht erkennbar, inwiefern sich der Fall der Steuerkorrektur gem. § 14c Abs. 1 UStG (im Regelfall durch Rechnungsberichtigung) in diesem Punkt von dem Fall der "normalen" Rechnungsberichtigung (z.B. bei Berichtigung einer Steuernummer) unterscheiden soll. In beiden Fällen bleiben das Steueraufkommen und die finale wirtschaftliche Belastung der Beteiligten unverändert.
Erkennbarkeit: Ob die Steuern zu Recht bzw. in der richtigen Höhe in Rechnung gestellt werden, ist insbesondere für den Leistungsempfänger in vielen Fällen auch gar nicht feststellbar. Dies erkannte der EuGH z.B. im Fall Biosafe an, als er feststellte, die Leistungsempfängerin (Flexipiso) habe nicht gewusst, "dass eine zusätzliche Mehrwertsteuer geschuldet war." Die Steuer wurde Flexipiso nachträglich in Rechnung gestellt und konnte trotz der (im nationalen Recht vorgesehenen) Verfristung noch abgezogen werden, weil der Fehler bei der ursprünglichen Versteuerung dem leistenden Unternehmer (Biosafe) zuzurechnen war. Zu überzogenen Anforderungen an den Steuerpflichtigen als "Steuereinnehmer für Rechnung des Staates" hat auch die Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen vom 8.7.2021 klare Worte gefunden.
Neutralitätsgrundsatz gilt auch bei Art. 203 MwStSystRL: Wird also der Vorsteuerabzug versagt und werden gegen den Leistungsempfänger Zinsen festgesetzt, widerspricht dies dem Unionsrecht. Der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer verliert auch bei der Korrektur von Steuern i.S.d. Art. 203 MwStSystRL, § 14c UStG nicht seine Geltung. Im Gegenteil hat der EuGH seine Feststellung, dass die Mitgliedstaaten den Steuerpflichtigen die Korrektur jeder zu Unrecht in Rechnung ...