Rz. 38
Abs. 4 enthält eine generelle Bestandsschutzvorschrift, die es dem Arbeitslosen ermöglichen soll, nach Entstehung eines Anspruchs eine Beschäftigung aufzunehmen, die nicht in der Höhe des für den aktuellen Bezug des Alg maßgebenden Bemessungsentgeltes entlohnt wird, das dem Anspruch zugrunde gelegt wurde (vgl. BSG, Urteil v. 1.6.2006, B 7a AL 86/05 R). Der Arbeitslose muss dann nicht den Fall der Wiederbewilligung (aktiv) herbeiführen, um gegenüber der "Erstbemessung" ungekürztes Alg zu erhalten, weil er auch nach Entstehung eines neuen Anspruchs auf Alg (also nach erneuter Erfüllung der Anwartschaftszeit nach § 142) auf das frühere Bemessungsentgelt zurückgreifen kann. Im Ergebnis ist es unerheblich, auf welchen versicherungspflichtigen Zeiten die Anwartschaft seinerzeit beruhte. Allerdings werden seit 2005 nur noch versicherungspflichtige Arbeitsentgelte in die Bemessung eingestellt; auch hypothetische Entgelte nach § 152 sind Arbeitsentgelte, die in versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen erzielt werden. Abs. 4 enthält damit eine Regelung über einen Mindestbetrag an Alg.
Rz. 38a
Die Regelung greift allerdings nur ein, wenn der Arbeitslose innerhalb der letzten 2 Jahre, die der Entstehung des erneuten Anspruchs auf Alg (§§ 136, 137) unmittelbar vorausgehen und kalendermäßig ablaufen, Alg bezogen hat. Bezug in diesem Sinne liegt auch vor, wenn dieser zwar rechtswidrig war, die Entscheidung über die Bewilligung aber nicht nach den §§ 45, 48 SGB X i. V. m. § 330 aufgehoben worden ist (zur Diskussion vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 19.12.2018, L18 AL 56/17; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 31.5.2006, L 7 AL 161/03, und LSG Schleswig-Holstein, Urteil v. 26.9.2008, L 3 AL 81/07, die Klage vor dem BSG wurde zurückgenommen). Dem LSG Schleswig-Holstein kann nicht gefolgt werden. Dem Bezug von Alg kann der Bezug eines Gründungszuschusses nicht gleichgestellt werden (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 17.11.2010, L 12 AL 153/10). Den Bezug von Alg für mindestens einen Tag innerhalb der letzten 2 Jahre vor der Entstehung des Anspruchs hält auch das LSG Sachsen-Anhalt für unerlässlich. Selbst wenn der Arbeitslose bezüglich der Bestandsschutzregelung in Abs. 4 von der Agentur für Arbeit falsch beraten worden sei, scheide eine Berücksichtigung der Regelung im Wege eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruches aus, weil der bestandsschutzbegründende Bezug nicht fingiert werden könne (LSG Sachsen-Anhalt, Urteil v. 20.7.2011, L 2 AL 88/09, unter Hinweis auf das BSG, Urteil v. 7.5.2009, B 11 AL 72/08). Demgegenüber hat das BSG entschieden, dass es auf den tatsächlichen Bezug von Alg nicht unbedingt ankommt. Der Zweck des Abs. 4 reicht dafür aus, unter der Perspektive von Anreizen zur Aufnahme einer schlechter bezahlten Arbeit keinen Unterschied danach zu machen, ob zu dem maßgebenden Zeitpunkt nur ein Stammrecht entstanden ist oder aus diesem Stammrecht auch Alg ausgezahlt worden ist. Als bezogen gilt demnach Alg auch, wenn es nicht gezahlt wurde, aber ein Stammrecht in einer bestimmten Höhe bestanden hat (BSG, Urteil v. 7.5.2019, B 11 AL 18/18 R). Nach einer Entscheidung des LSG Hessen v. 19.2.2021 (L 7 AL 64/19), die dem BSG gefolgt ist, ist die Frage, ob das Stammrecht auch ohne Vorliegen von Arbeitslosigkeit genügt, erneut beim BSG anhängig (B 11 AL 8/21). Mit Urteil v. 25.5.2022 hat das BSG bestätigt, dass innerhalb der Frist von 2 Jahr mindestens 1 Tag Arbeitslosigkeit vorliegen muss, ein Bezug von Gründungszuschuss ist unbeachtlich.
Ein Stammrecht auf Alg zeichnet sich demnach dadurch aus, dass es zwar (noch) nicht dazu berechtigt, eine bestimmte Leistung (vollstreckbar) beanspruchen zu können, es begründet aber einen zu einem subjektiven Recht verfestigten Besitzstand, wenn alle gesetzlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Alg bei seiner Entstehung vorgelegen haben. Bereits mit dem Entstehen eines Stammrechts wird ein Sozialrechtsverhältnis zwischen dem Leistungsberechtigten und dem Sozialleistungsträger begründet, das Grundlage verschiedener Rechte und Pflichten bzw. Obliegenheiten auch unabhängig von konkreten Leistungsansprüchen ist. Für die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals "Arbeitslosengeld bezogen" in Abs. 4 ist demnach aber erforderlich, dass die Voraussetzungen für die Entstehung des Stammrechts auch innerhalb des 2-Jahres-Zeitraums zumindest für einen Tag bestanden haben.
Das BSG-Urteil v. 7.5.2019 (B 11 AL 18/18 R) betraf den Fall eines Stammrechts mit fehlendem Leistungsanspruch aufgrund des Ruhens des Anspruchs auf Alg trotz bestehender Arbeitslosigkeit. Das BSG hat demnach darauf hingewiesen, dass während des Ruhens gleichwohl Rechte und Pflichten, etwa das Recht des Arbeitslosen auf Förderung aus dem Vermittlungsbudget oder auf Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung bestehen, und dass dem die Pflicht bzw. Obliegenheit gegenübersteht, sich der Arbeitsvermittlung zur Verfügung zu stellen oder sich nach Maßgabe des § 309 melden zu müssen.
Diese Entscheidu...