2.1 Umsetzung von Rechtsprechung
Rz. 3
Abs. 1 betrifft den Sachverhalt nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X, bei dem das Recht unrichtig angewandt worden ist und dadurch im Einzelfall Sozialleistungen zu Unrecht nicht oder nicht in der richtigen Höhe erbracht worden sind. Das SGB X sieht in diesen Fällen eine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit vor, auch nachdem der Verwaltungsakt unanfechtbar geworden ist. § 44 Abs. 4 SGB X begrenzt die Rücknahme für die Vergangenheit auf 4 Jahre. Im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende wird der Überprüfungszeitraum durch die Sonderregelung in § 40 SGB II auf ein Jahr begrenzt. Die Regelung im SGB III begrenzt den Rücknahmezeitraum in bestimmten Fällen der Rechtsprechung. Eine Rücknahme für die Vergangenheit über den Tag des Beschlusses oder Urteils hinaus wird durch Abs. 1 ausgeschlossen, wenn die Rechtsnorm, auf der der Verwaltungsakt beruht, durch das BVerfG für nichtig oder unvereinbar mit dem GG erklärt oder durch ständige Rechtsprechung (insbesondere des für das Arbeitslosenversicherungsrecht zuständigen BSG) anders als durch die Bundesagentur für Arbeit ausgelegt worden ist. Die Regelung knüpft damit an den Zeitpunkt an, zu dem sich die rechtlichen Verhältnisse durch die Rechtsprechung geändert haben (vgl. § 48 Abs. 2 SGB X).
Rz. 4
Die Regelung betrifft nicht Verwaltungsakte, die angefochten sind oder noch angefochten werden können, weil die Widerspruchsfrist noch nicht abgelaufen ist, also nur bestandskräftige Verwaltungsakte. Für die Praxis der Arbeitsverwaltung liegt es natürlich bei diesem Sachzusammenhang nahe, auf übereinstimmende Urteile der 2. Instanz nicht zu reagieren, also die Verwaltungsvorschriften nicht anzupassen, sondern die Rechtsprechung des BSG abzuwarten und sich dann, wenn das BSG die Urteile der LSG bestätigt, auf § 330 Abs. 1 zu berufen.
Rz. 5
Bei der Arbeitslosenversicherung handelt es sich um eine Massenverwaltung. Arbeitslosengeld (Alg) wird stets in einer Vielzahl von Fällen gleichzeitig gezahlt. Zugleich ist die Fluktuation sehr groß. Arbeitslosigkeit ist nach wie vor meistens nur ein vorübergehender Zustand für die betroffenen Arbeitnehmer. Dies eröffnet den Umfang aufzugreifender Fälle bei Verfassungswidrigkeit oder in ständiger Rechtsprechung abweichend von den durch die Bundesagentur für Arbeit ausgelegten Rechtsnormen im Kernbereich der Arbeitslosenversicherung, z. B. im Bemessungsrecht. Zur Beurteilung des Arbeitsumfanges kommt es nicht auf die Fälle an, in denen eine Leistung der Arbeitsförderung nachträglich zu erbringen oder zu erhöhen ist, sondern auf das Potenzial, das sozusagen manuell daraufhin zu überprüfen ist, ob ein Fall des § 44 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGB X vorliegen könnte. Bei rückwirkender Umsetzung der Rechtsprechung ist weiterhin zu berücksichtigen, dass Leistungen häufig verzinst werden müssten, was umfangreiche Zinsberechnungen erfordert. Darüber hinaus wird allein durch die Masse betroffener Fälle ein erheblicher finanzieller Aufwand erforderlich. Vor diesem Hintergrund erscheint die Maßnahme des Gesetzgebers gerechtfertigt, die Umsetzung begünstigender Rechtsprechung nur für die Zeit ab dem Beschluss des BVerfG bzw. dem Urteil, aufgrund dessen ständige Rechtsprechung anzunehmen ist, abweichend zu regeln. Die komplexe IT-Technik der Arbeitsverwaltung mit ihren vielen Fachverfahren erlaubt es ohne Weiteres, laufende Fälle maschinell anzupassen und damit den größten Teil abzuarbeitender Fälle zu erfassen.
Rz. 5a
Allerdings muss die Arbeitsverwaltung fürchten, dass die Bürger gegen Entscheidungen der Agenturen für Arbeit, die eine strittige Rechtsfrage betreffen, massenhaft Widerspruch erheben, wenn die Rechtsfrage beim BVerfG oder dem BSG anhängig geworden ist, um die Anwendung des Abs. 1 (Korrektur erst ab dem Entscheidungsdatum) zu verhindern. Im Regelfall werden die Agenturen für Arbeit ihre Entscheidungspraxis nicht ändern und weiterhin wie zuvor die Einzelfälle regeln. Das ist insoweit nachvollziehbar, als die Agenturen für Arbeit kraft ihres gesetzlichen Auftrages das geltende Recht umzusetzen haben. Und das gilt nun mal so lange, bis eine anderslautende Entscheidung i. S. v. Abs. 1 getroffen worden ist. Die Widersprüche können zwar auch ruhend gestellt werden, müssen letztlich aber durch die Verwaltung abgearbeitet werden. Hiergegen kann durch Zusicherungen i. S. d. § 34 SGB X vorgegangen werden. Damit sichert die Agentur für Arbeit zu, die Leistungen auch für die Vergangenheit nachzuzahlen, wenn sich ein Sachverhalt nach § 44 Abs. 1 SGB X ergibt. Allerdings wird dadurch die Wirkung des § 330 Abs. 1 ebenfalls aufgehoben. Das BSG geht davon aus, dass es einer einheitlichen Verwaltungspraxis bedarf, wenn Abs. 1 in Fällen der Korrektur von Verwaltungsentscheidungen durch ständige Rechtsprechung des BSG zur Anwendung kommen soll (vgl. z. B. BSG, Urteil v. 15.12.2010, B 14 AS 61/09 R). Dies ist bei Verfahren nach dem SGB III nicht in Zweifel zu ziehen, weil insoweit von einheitlicher Rechtsanwendung durch alle Agenturen für Arbeit aufgrund ze...