Keine Berechnung möglich: Die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen ist nur dann möglich, wenn eine tatsachenfundierte Berechnung anhand der vorliegenden oder noch zu erhebenden Beweismittel nicht möglich ist. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn eine Buchführung nicht vorliegt oder aufgrund schwerwiegender formeller und materieller Mängel verworfen wird. Der Tatrichter ist angehalten, tatsächliche Anhaltspunkte, welche eine konkrete Ermittlung tatsächlicher Umsätze trotz fehlender oder manipulierter Buchführung ermöglichen, zu ermitteln. Es sind vor dem Rückgriff auf eine Schätzung konkrete Berechnungen anzustellen. Erst wenn Berechnungsversuche nicht möglich oder zu fehleranfällig sind, darf geschätzt werden (vgl. BGH v. 6.4.2016 – 1 StR 523/15).
Rückgriff auf steuerrechtliche Schätzungsmethoden: Zur Durchführung der Schätzung darf das Tatgericht dann auf die im Besteuerungsverfahren anerkannten Methoden der Schätzung zurückgreifen, wie bspw. Vermögenszuwachs- und Gesamtgeldverkehrsrechnungen, Nachkalkulation, Richtsatzverprobung, Betriebsvergleich, Zeitreihenvergleich oder Chi-Quadrat-Test zur Überprüfung der Kassenbuchführung. Der Tatrichter hat die Schätzungsmethode auszuwählen, welche den tatsächlichen Verhältnissen am nächsten kommt.
Sind Schätzungen bereits im Besteuerungsverfahren vorgenommen worden, darf der Tatrichter diese zwar übernehmen, er hat diese jedoch eigenständig zu überprüfen und sich gem. § 261 StPO von der Richtigkeit zu überzeugen. Diese eigenständige Überprüfung muss in den Urteilsgründen erkennbar sein.
Beraterhinweis Eine schlichte Übernahme der Schätzungsmethoden des Veranlagungs-FA durch den Tatrichter oder auch durch die Straf- und Bußgeldsachenstelle sollte immer überprüft werden.
Eigenständige Überzeugung: Der Tatrichter muss sich gem. § 261 StPO vom Schätzungsergebnis eigenständig überzeugt haben. Die Schätzung muss sich als eine eigene Schätzung des Tatrichters darstellen, sie darf nicht den Anschein haben, als ob der Tatrichter lediglich die Ergebnisse des FA ungeprüft und ohne eigene Überzeugung übernommen hat.
Sofern der Tatrichter jedoch auf die Schätzungsergebnisse des FA zurückgreift, muss er in seinen Urteilsgründen die Schätzungsgrundlagen, die vom FA ermittelt wurden, darlegen und mit eigenen Erkenntnissen begründen (vgl. BGH v. 24.5.2007 – 5 StR 58/07, wistra 2007, 345). Hierbei muss er insb. berücksichtigen, dass die Schätzungsmethoden im Steuerrecht und im Steuerstrafrecht einen unterschiedlichen Beweiswert haben können. Im Steuerstrafverfahren dürfen der Schätzung nur Tatsachen zugrunde gelegt werden, die zu seiner Überzeugung vorliegen. Es gilt im Strafrecht im Gegensatz zum Steuerrecht "in dubio pro reo". Eine Schätzung auf bloßen Vermutungen kann daher keinen Bestand haben. Im Gegensatz zum Besteuerungsverfahren kann im Strafverfahren der Schätzungsrahmen nicht beliebig nach oben ausgeschöpft werden, da hier der Zweifelsgrundsatz gilt.
Die Schätzung ist so vorzunehmen, dass sie bspw. einer ordnungsgemäßen Buchhaltung sehr nahe kommt (vgl. BGH v. 19.1.1993 – VIII R 128/84). Soweit Tatsachen feststehen, sind diese der Schätzung zugrunde zu legen. Das bedeutet, dass eine vorgefundene Buchhaltung nicht in Gänze verworfen werden darf – wie es im Besteuerungsverfahren der Fall ist – sondern der Schätzung im Steuerstrafverfahren zugrunde gelegt werden muss. Zudem müssen sich unüberwindbare Zweifel im Rahmen der Schätzung zwingend zugunsten des Steuerpflichtigen auswirken (vgl. Joecks in Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, 8. Aufl., § 370 AO Rz. 81).
Im Steuerstrafverfahren ist in diesen Fällen dann ein Mindestschuldumfang festzustellen, das heißt, die Schätzung ist auf den Betrag zu begrenzen, der mindestens herangezogen werden kann (vgl. Rüsken in Klein, AO, 16. Aufl.2022, § 162 Rz. 19a).
Beraterhinweis Sofern steuerliche Unterlagen vorliegen, die jedoch den Anforderungen einer ordnungsgemäßen Buchhaltung nicht entsprechen und daher das FA zur Schätzung nach § 162 AO berechtigen, sollte jedoch die Buchhaltung im Rahmen des Steuerstrafverfahrens bei der Schätzung berücksichtigt werden. Ein niedriger Betrag bei der Schätzung ist durchaus wahrscheinlich und wirkt sich auf das Strafmaß aus.