Dipl.-Finanzwirt Karl-Heinz Günther
1.1 Allgemeines
Die Finanzbehörden sind verpflichtet, die Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben (§ 85 AO). Dazu ermitteln sie den Sachverhalt von Amts wegen, wobei sich der Ermittlungsumfang nach den Umständen des Einzelfalls richtet (§ 88 Abs. 1 AO). Bei Ermittlung der festzusetzenden Steuer muss der Steuerpflichtige mitwirken, insbesondere durch
- Abgabe von Steuererklärungen (§§ 149 ff. AO),
- Erfüllung seiner Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten (§§ 140 ff. AO), aber auch durch
- Mitwirkung bei der Aufklärung des steuerrechtlich relevanten Sachverhalts (§§ 90 ff. AO).
Kann das Finanzamt nun trotz Ausschöpfung seiner Ermittlungspflichten die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln oder berechnen, weil z. B. der Steuerpflichtige seinen Mitwirkungspflichten nicht nachkommt, ist es berechtigt und verpflichtet, die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen (§ 162 Abs. 1 Satz 1 AO).
1.2 Beweislast
Die Vorschrift des § 162 AO kommt zur Anwendung, wenn sich trotz gemeinsamer Aufklärungsverantwortung von Finanzbehörde und Steuerpflichtigem der besteuerungsrelevante Sachverhalt nicht ermitteln lässt. Dabei muss das Finanzamt, auch wenn der Steuerpflichtige seinen Mitwirkungspflichten nicht oder nicht hinreichend nachkommt, gleichwohl seine Ermittlungspflichten erfüllen, d. h. es bleibt für die Sachaufklärung verantwortlich. Allerdings gilt der Grundsatz, dass sich die Verantwortung des Steuerpflichtigen für die Sachaufklärung vergrößert, je mehr Tatsachen oder Beweismittel der vom Steuerpflichtigen beherrschten Informations- und Tätigkeitssphäre angehören.
Konkret bedeutet dies: Ist das Finanzamt trotz Ausschöpfung seiner Ermittlungspflichten nicht in der Lage, den steuerrechtlich relevanten Sachverhalt zu ermitteln, verlagert sich das Beweisrisiko auf die Seite des Steuerpflichtigen, der seinerseits seiner Mitwirkungspflicht nicht nachkommt. Entsprechend hat er die Folgen aus den jeder Schätzung anhaftenden Unsicherheiten zu tragen, die sich im Zweifel zu seinen Lasten auswirken werden.
1.3 Schätzung als Beweiswürdigung
Schätzt das Finanzamt die Besteuerungsgrundlagen, ist dies keine Ermessensentscheidung, sondern eine Beweiswürdigung aufgrund unzureichender Beweismittel. § 162 Abs. 1 Satz 1 AO verpflichtet die Finanzbehörde zur Schätzung, soweit sie die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln oder berechnen kann.
Tatsächliche Verständigung
Durch das abgesenkte Wahrscheinlichkeitsmaß ergeben sich nun Konkretisierungsspielräume, die z. B. auch einvernehmlich im Rahmen einer sog. tatsächlichen Verständigung ausgefüllt werden können.
Bei Vorliegen grenzüberschreitender Sachverhalte ist die Finanzverwaltung mit dem Instrument der tatsächlichen Verständigung jedoch sehr zurückhaltend. Sie verweist hierzu in erster Linie auf die bestehenden Instrumente der internationalen Verwaltungszusammenarbeit, z. B. die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Betriebsprüfung sowie insbesondere die Schätzungs- und Sanktionsregularien des § 162 Abs. 2 bis 4 AO.
1.4 Pauschalierung
Von der Schätzung von Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO zu unterscheiden sind gesetzliche Pauschalierungen, z. B. in § 50 Abs. 4 EStG bei beschränkt Steuerpflichtigen oder in § 40 EStG zur pauschalen Lohnsteuerfestsetzung. Diese dienen typisierend der Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens. Entsprechendes gilt für typisierende Verwaltungsvorschriften, z. B. die Reisekostenregelungen der Lohnsteuerrichtlinien oder die amtlichen AfA-Tabellen zur Schätzung der Nutzungsdauer abnutzbarer Wirtschaftsgüter. Die dortigen Pauschalierungen sind auch von den FG zu beachten, sofern sie nicht zu einer offensichtlich unzutreffenden Besteuerung führen.