2.2.1 Gründe für die Konfliktlösung über ein Schiedsstellenverfahren
Rz. 8
Das übliche Rechtsmittel zur Durchsetzung von Interessen öffentlich-rechtlicher Natur sind Klagen vor den Gerichten, zum Teil mit der Prozessvoraussetzung, dass ein verwaltungsrechtliches Vorverfahren stattgefunden hat. Im Bereich des Einkaufs von Dienstleistungen der Eingliederungshilfe (und Sozialhilfe) hat sich der Gesetzgeber aber für einen anderen Weg entschieden, nämlich der Vorschaltung eines Schiedsstellenverfahrens vor einer gerichtlichen Klärung des Rechtsstreits.
In ihrer Begründung zum Entwurf des § 126 führt die Bundesregierung aus (Begründung Regierungsentwurf BTHG, BR-Drs. 428/16 S. 303): "Durch die Vorschaltung eines Schiedsstellenverfahrens soll zügig ein weitgehender Interessenausgleich zwischen den Verhandlungspartnern erzielt werden, ohne dass es eines zeitaufwendigen Gerichtsverfahrens bedarf. Die Schiedsstelle hat als neutrale Stelle sowohl dem Interesse der Träger der Eingliederungshilfe an einer ausreichenden und kostengünstigen Versorgung der Leistungsberechtigten als auch dem Interesse der Leistungserbringer an der angemessenen Vergütung ihrer Leistungen Rechnung zu tragen. Wie das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss zum Vertragsrecht nach den Vorschriften des Zwölften Buches festgestellt hat, kommt der Übernahme der Kosten aus Mitteln der Sozialhilfe eine erhebliche wirtschaftliche Bedeutung für den Leistungserbringer zu. Entscheidungen der Schiedsstellen zur Vergütung der Leistungen sind daher aufgrund ihres in die Berufsfreiheit eingreifenden Charakters an Artikel 12 Absatz 1 GG zu messen (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 1.9.2008, Az.: 1 BvR 887/08, Rn. 13 = BVerfGK 14 S. 187). Entsprechendes gilt für die Übernahme der Kosten durch die Träger der Eingliederungshilfe. Die Vorschriften des Teils 2 des Neunten Buches bilden die von Verfassungs wegen erforderliche gesetzliche Grundlage zur Festsetzung der Vergütung durch die Schiedsstelle. Es besteht ein überragendes Interesse der Allgemeinheit daran, dass staatliche Mittel wirtschaftlich und sparsam eingesetzt werden. Hieraus folgt für die Festsetzung durch die Schiedsstelle auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ein allgemeinverbindlicher Angemessenheitsmaßstab, der auf den entsprechenden Marktpreis abstellt und nicht an die unternehmerischen Entscheidungen des Leistungserbringers gebunden ist (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 1.9.2008, Az.: 1 BvR 887/08, Rn. 16 = BVerfGK 14 S. 187)."
Ein großer Vorteil des Schiedsstellenverfahrens ist dessen meditative Ausrichtung, um im Spannungsfeld zwischen Nachfrager und Anbieter befriedend wirken zu können (Gottlieb, Anm. zu BSG, SGb 2017 S. 104, 108). Das ist ein Vorteil, den ein eher auf Moderation und Entscheidung ausgerichtetes gerichtliches Verfahren nicht leisten kann.
2.2.2 Formelle Anforderungen an die Anrufung der Schiedsstelle
Rz. 9
Kommt es nach dokumentierter Aufforderung zu Verhandlungen innerhalb von 3 Monaten (die bisherige Wartefrist von 6 Wochen gemäß § 77 Abs. 1 Satz 2 SGB XII i. d. F. bis 31.12.2019 wurde auf 3 Monate verlängert) zu keiner schriftlichen Vereinbarung zwischen den Vertragsparteien, kann jede Partei hinsichtlich der strittigen Punkte die Schiedsstelle anrufen. Hierbei kann der Antrag auf Durchführung des Schiedsverfahrens von beiden Vertragsparteien gestellt werden. Solange beide Anträge anhängig sind, besteht zwischen den Antragstellern eine uneigentliche notwendige Streitgenossenschaft (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss v. 9.6.1995, 8 P 2267/95, DVBl. 1995 S. 933).
Die bisherige Frist von 6 Wochen hat sich in der Praxis vielfach als zu kurz und daher nicht praxisgerecht erwiesen, da die Verhandlungen in dieser Zeitspanne angesichts der Komplexität der Materie nicht abgeschlossen werden können. Die Verlängerung auf 3 Monate trägt diesem Umstand Rechnung, wahrt aber zugleich die Schutzfunktion der Vorschrift, in dem sie den beteiligten Verhandlungspartnern einen zügigen Abschluss des Verfahrens gewährleisten soll (vgl. Begründung Regierungsentwurf BTHG, BR-Drs. 428/16 S. 303).
Im Gegensatz zur Aufforderung zu Vertragsverhandlungen sieht Abs. 2 für den Antrag an die Schiedsstelle keine Schriftform vor. Hier ist aber zu beachten, dass Rechtsverordnungen der Länder zusätzliche Formerfordernisse vorsehen können (§ 133 Abs. 5 Nr. 6; so Rechtspraxis zum geltenden Recht, vgl. Freudenberg, in: Jung, SGB XII, § 77 Rz. 15). Dies regelt z. B. § 7 Abs. 1 Satz 3 SGB XII – Schiedsstellenverordnung HH (HmbGVBl. 2004 S. 534).
Auch verzichtet Abs. 2 für den Antrag an die Schiedsstelle auf Vorgaben zum notwendigen Inhalt des Antrags. Klar ist, dass es sich um Gegenstände handeln muss, die auch nach § 125 verhandelbar und zwischen den Vertragsparteien strittig sind. Dies ist mindestens im Antrag kenntlich zu machen. Neumann fordert, dass die Begründung so konkret sein muss, dass die Schiedsstelle eine Entscheidung fällen kann (in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 77 Rz. 12). Auch hier sind weitere Vorgaben aufgrund der Rechtsverordnungen der Länder (Ermächtigungsgrundlage § 133 Abs. 5 Nr. 6) zu beachten (zur Rechtspraxis zum geltenden...