2.4.1 Grobe Verletzung gesetzlicher oder vertraglicher Verpflichtungen
Rz. 9
Tatbestand für ein außerordentliches Kündigungsrecht der Träger der Eingliederungshilfe ist die Unzumutbarkeit am Festhalten der Vereinbarungen mit dem Leistungserbringer aufgrund einer groben Verletzung seiner gesetzlichen oder vertraglichen Verpflichtung (Satz 1). Satz 2 definiert die "grobe Pflichtverletzung" anhand von 5 Fallgruppen, allerdings nicht abschließend ("insbesondere"), d. h., es können auch weitere Fallgestaltungen dazu führen, dass dem Träger der Eingliederungshilfe ein Festhalten an den Vereinbarungen nicht mehr zumutbar ist.
2.4.2 Unzumutbarkeit eines Festhaltens an den Vereinbarungen – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Rz. 10
Die Unzumutbarkeit (als unbestimmter Rechtsbegriff) eines Festhaltens an den Vereinbarungen kann nur in Einzelfallbetrachtung bewertet werden. Zusammen mit der Einräumung von Ermessen (Satz 1: "kann") entsprechen diese Einschränkungen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (VG München, Urteil v. 26.4.1990, M 15 K 90.576, RsDE (1991) Nr. 13 S. 87, 92; Neumann, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 78 Rz. 3). Nicht jeder Verstoß gegen einen Tatbestand des Katalogs in Satz 2 oder vergleichbare Tatbestände berechtigt automatisch zum Ausspruch der Kündigung (a. A. aber offenbar Flint, in: Grube/Wahrendorf/Flint, 5. Aufl. 2014, SGB XII, § 78 Rz. 5, der von einer unwiderlegbaren Vermutung der Tatbestände des Satzes 2 ausgeht).
Die Unzumutbarkeit eines Festhaltens an den Vereinbarungen und die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit werden der Tragweite der möglichen Wirkung einer außerordentlichen Kündigung für den Leistungserbringer gerecht, da es sich um einen Eingriff in die Berufswahlfreiheit des Leistungserbringers aus Art. 12 GG handelt (vgl. Komm. zu § 128 Rz. 8, und Neumann, in: Hauck/Noftz, SGB XII, § 78 Rz. 3).
Dieses Rangverhältnis zumutbarer, verhältnismäßiger Kündigungen im Vergleich zu anderen Maßnahmen wird durch den neuen Tatbestand des § 129 gestärkt, wonach im neuen Vertragsrecht nunmehr auch bei Verletzung gesetzlicher oder vertraglicher Verpflichtungen durch den Leistungserbringer die Kürzung der vereinbarten Vergütung für die Dauer der Pflichtverletzung als mildere Maßnahme vorgesehen ist.
2.4.3 Katalog der Kündigungstatbestände des Satzes 2
Rz. 11
Satz 2 konkretisiert die Anforderungen an eine "grobe Pflichtverletzung" anhand von nicht abschließend geregelten Fallgruppen.
Unter Beachtung der Unzumutbarkeit eines Festhaltens an den Vereinbarungen und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sind die Tatbestände des Satzes 2 unwiderlegbare Vermutungsregelungen, die eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen. Neben dem objektiven Tatbestand muss bei Satz 2 Nr. 1, 2 und 5 auch das subjektive Element des Verschuldens geprüft werden. Bei den Tatbeständen des Satzes 2 Nr. 3 und 4 wurde im Vorfeld bei der Entscheidung auf Entzug der Betriebserlaubnis oder der Untersagung des weiteren Betriebes das Verschuldenselement abschließend geprüft. Für die Erfüllung des Tatbestands dürfte leichte Fahrlässigkeit ausreichen. Fehlverhalten der Mitarbeiter des Leistungserbringers ist diesem zuzurechnen.
Satz 2 Nr. 1 stellt auf den Fall ab, dass ein Leistungsberechtigter infolge der Pflichtverletzung zu Schaden kommt. Typisch ist für diesen Fall eine mangelnde fachgerechte Aufsicht über Handlungen der Leistungsbezieher. Im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes muss der Schaden eine gewisse Schwere und Umfang haben. Jenseits von Körperschaden kann auch die Geltendmachung von Forderungen gegenüber dem Leistungsberechtigten, die nicht gegenüber diesem erhoben werden dürfen (z. B. nicht anerkannte Investitionskosten), den Tatbestand erfüllen (Freudenberg, in: Jung, SGB XII, § 78 Rz. 9; vgl. auch Satz 1 Nr. 5). Auch eine Pflichtverletzung gegenüber selbstzahlenden Leistungsbeziehern kann grundsätzlich als Pflichtverletzung nach Satz 2 Nr. 1 gewertet werden, da dem Träger der Eingliederungshilfe eine umfassende Qualitätsüberwachung des Leistungserbringers zukommt (Freudenberg, in: Jung, SGB XII, § 78, Rz. 9a; Flint, in: Grube/Wahrendorf/Flint, 5. Aufl. 2014, SGB XII, § 78 Rz. 4; a. A. Münder, in: LPK-SGB XII, 9. Aufl. 2012, § 78 Rz. 1).
Satz 2 Nr. 2 führt gravierende Mängel bei der Leistungserbringung an. Diese liegen grundsätzlich bereits vor, wenn der Leistungserbringer die vereinbarten Leistungen nicht mit ausreichender sachlicher oder personeller Ausstattung erbringen kann. So hat das BVerwG (Urteil v. 29.12.2000, 5 B 171/99, Rz. 6, RsDE (2002) Nr. 50 S. 78) bereits die Unfähigkeit eines Heimbetreibers, den baulichen Mindeststandard herzustellen, als einen hinreichenden Kündigungsgrund bewertet. Auch die Weigerung, Leistungsberechtigte aufzunehmen oder diese Pflicht nur selektiv zu erfüllen, kann als gravierender Mangel der Leistungserbringung gewertet werden (Freudenberg, in: Jung, SGB XII, § 78, Rz. 9).
Satz 2 Nr. 3 und 4 berechtigt den Träger der Eingliederungshilfe zur Kündigung, wenn dem Leistungserbringer nach heimrechtlichen Vorschriften (der Länder) die Betriebserlaubnis entzogen oder nach einer ordnungsrechtlichen Entscheidung einer Behörde der weitere Betrieb des Leistungserbringers untersagt worden ist. Dieser Fa...