Rz. 3
Das in § 10 Abs. 1 aufgeführte Gebot,
- gleichzeitig mit der Einleitung einer medizinischen Rehabilitationsleistung,
- während dieser und
- nach Abschluss der medizinischen Rehabilitation
die Notwendigkeit einer Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben zu prüfen, soll gewährleisten, dass diese Leistung bei Bedarf so frühzeitig wie möglich in die Wege geleitet wird. § 10 konkretisiert damit die in § 9 Abs. 1 und 2 aufgeführten Grundsätze zur Erhaltung bzw. Förderung der Arbeitskraft des erwerbsgefährdeten oder erwerbsgeminderten Menschen.
Die Vorschrift hat nur den Zweck, einen möglichen Bedarf an Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben frühzeitig zu erkennen. Die Prüfung, ob tatsächlich ein Anspruch auf die Teilhabeleistung besteht, erfolgt später nach der Antragstellung durch den zuständigen Träger.
Rz. 4
Im Vordergrund der Prüfung nach § 10 Abs. 1 steht die Erhaltung, Besserung oder Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit.
Der Begriff der Erwerbsfähigkeit wird im Gesetz nicht definiert. In Rechtsprechung, Literatur und Praxis versteht man unter Erwerbsfähigkeit übereinstimmend die "Fähigkeit des Versicherten, unter Ausnutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm nach seinen gesamten Erkenntnissen und körperlichen und geistigen Fähigkeiten im ganzen Bereich des wirtschaftlichen Lebens bieten, Erwerbseinkommen zu erzielen" (vgl. BSG, Urteil v. 19.7.1963, 1 RA 6/60). Dabei wird auf den allgemeinen Arbeitsmarkt abgestellt. Als Arbeitsmarkt versteht man nicht denjenigen in geschützten Werkstätten oder Einrichtungen, sondern in erster Linie nur den "ersten" allgemeinen Arbeitsmarkt.
Die Erwerbsfähigkeit ist gefährdet, wenn – ohne Teilhabeleistungen – nach ärztlicher Feststellung Grund zur Annahme besteht, dass durch die gesundheitlichen Beeinträchtigungen und die damit verbundenen Funktionseinschränkungen innerhalb eines Zeitraumes von bis zu 3 Jahren mit einer Minderung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu rechnen ist. Der Autor bezieht sich bei dem Zeitraum von 3 Jahren auf die Mitteilungen der LVA Oberfranken und Mittelfranken aus dem 1995 (S. 264) und auf Ziff. 2.4 der Auslegungsgrundsätze der Rentenversicherungsträger zu den persönlichen und versicherungsrechtlichen Leistungen zur Teilhabe und zur Mitwirkung der Versicherten i. d. F. v. 18.7.2002; Text: vgl. Komm. zu § 9 SGB VI). Bei dem Zeitraum von bis zu 3 Jahren erfolgt eine Orientierung an der absehbaren Zeit, wie sie sich aus § 102 Abs. 2 Satz 2 SGB VI ergibt.
Bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit ist zu prüfen, ob der Versicherte mit seinen (Arbeits-)Fähigkeiten unabhängig von den Besonderheiten des aktuellen Arbeitsplatzes den typischen Anforderungen des ausgeübten Berufs noch nachkommen kann (BSG, Urteil v. 20.10.2009, B 5 R 44/08 R). Kann also z. B. der Arbeitnehmer alle Tätigkeiten verrichten, die seinem typischen Berufsbild entsprechen, aber nicht spezielle, für seinen aktuellen Arbeitsplatz notwendige zusätzliche Arbeiten (z. B. besonders schweres Heben, weil entsprechende technische Hilfsmittel zur Erleichterung der Arbeit in der Firma nicht vorhanden sind), hat dieses keine Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit im rentenversicherungsrechtlichen Sinn.
Die grundsätzliche Prüfung nach § 10 Abs. 1 muss unter Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage erfolgen. Sie hat die Notwendigkeit, die Art und den Umfang von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang verpflichtet der Gesetzgeber sogar den Rehabilitationsträger, die Bundesagentur einzuschalten und beschreibt in Abs. 1 Satz 2 durch den Hinweis auf § 54 (bis 31.12.2017: § 38) sogar das Verfahren. Der Gesetzgeber verspricht sich durch die Beteiligung der Bundesagentur wegen ihrer Sachkompetenz auf dem Gebiet des allgemeinen Arbeitsmarktes mehr Transparenz bezüglich der Auswahl und Einleitung zielgerichteter Maßnahmen.
Nicht jede kurzfristige Minderung der Erwerbsfähigkeit infolge akuter Erkrankung löst einen Anspruch auf Teilhabeleistungen aus. Der Rehabilitationsträger wird grundsätzlich erst dann Teilhabeleistungen zu seinen Lasten bewilligen, wenn die Erwerbsfähigkeit des Betroffenen aufgrund medizinischer Erkenntnisse voraussichtlich für einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten (mehr als 182 Kalendertage) gefährdet ist. Dabei wird ein Zeitraum vom vermeintlichen Eintritt der Erwerbsminderung bis zur voraussichtlichen (Wieder-)Aufnahme der Arbeit beurteilt. Diese 6-Monats-Frist wird u. a. durch § 2 Abs. 1 genährt (vgl. auch Ziff. 2.2 der oben erwähnten Auslegungsgrundsätze der Rentenversicherungsträger). Um eine Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit anzunehmen, müssen also körperliche, geistige oder seelische Funktionsdefizite und Barrieren (einschließlich Sinnesbehinderungen) für einen Zeitraum von voraussichtlich länger als 6 Monaten vorliegen, die den Betroffenen aufgrund medizinischer Erkenntnisse an der Ausübung seines aktuellen Berufs (= berufstypische Aufgaben und Verpflichtungen) hindern oder diesen nicht mehr ohne wesentl...