Rz. 10
Der Rehabilitationsträger hat im Zusammenhang mit den Rehabilitations- bzw. Teilhabeleistungen die Wünsche des betroffenen Menschen mit Behinderung bzw. drohender Behinderung (§ 2 Abs. 1) zu erfüllen, wenn diese Wünsche berechtigt sind. Berechtigt sind die vom Leistungsberechtigten geäußerten Wünsche dann, wenn diesen keine Rechtsvorschrift entgegensteht und wenn sie sich innerhalb des für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden gesetzlichen Leistungsrechts bewegen (Gesetzesbegründung zur Vorgängervorschrift des § 8, dem bis 31.12.2017 geltenden § 9, BT-Drs. 14/5074 S. 100). Inwieweit sich Wünsche des Berechtigten innerhalb des geltenden gesetzlichen Leistungsrechts bewegen, ist i. d. R. auch unter Berücksichtigung des gesetzlichen oder satzungsmäßigen Leistungsrahmens und den damit verfolgten Zielen zu beurteilen.
In der Praxis der Rehabilitationsträger wurde teilweise die Auffassung vertreten, dass § 33 Satz 2 SGB I und § 8 Abs. 1 SGB IX die beiden Wunschrechte des Leistungsempfängers identisch regeln. Das ist aber nicht so: Das Wort "berechtigt" i. S. d. § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, dass sich auf die Rechtmäßigkeit des Wunsches bezieht, hat eine andere Bedeutung als das Wort "angemessen" i. S. d. § 33 Satz 2 SGB I: Ein Wunsch ist nämlich dann angemessen, wenn die Nachteile, die mit ihm verbunden sind, nicht völlig außer Verhältnis zu den Vorteilen stehen, die er bewirkt. Die Begriffe "berechtigt" und "angemessen" unterscheiden sich also durch andere Bewertungsmaßstäbe.
Der Autor interpretiert das Wort "berechtigt" so, dass der Grundsatz der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit in den Fällen des § 8 in den Hintergrund tritt, wenn der Rehabilitand unter Berücksichtigung seiner individuellen Lebenssituation einen als berechtigt einzustufenden Bedarf anmeldet. Dieser Bedarf kann z. B. begründet sein
- durch das Alter (ein an einer Atemwegserkrankung leidender, 89-jähriger Mensch möchte seine medizinische Rehabilitation nicht im Gebirge, sondern am Meer durchführen, weil er sich nur noch auf ebenen Gelände selbständig fortbewegen kann und im Außenbereich der Klinik vorhandene Steigungen nicht mehr bewältigen kann),
- aufgrund des Gesundheitszustands bzw. der Schwere der Behinderung (ein hochbetagter Rehabilitand möchte wegen der langen Transportwege nicht in die für die Aufnahme vorgesehene Rehabilitationseinrichtung),
- aufgrund der familiären Lebensverhältnisse bzw. des Lebenshintergrundes (ein schwerstbehinderter Jugendlicher möchte, dass seine Vertrauensperson, die ihn tagsüber betreut, als Begleitperson mit zur stationären Rehabilitation aufgenommen wird; ferner: die Verwandten, die während einer Teilhabeleistung eine Betreuung des im Haushalt lebenden Kleinkindes sicherstellen können, wohnen in der Stadt, in der die Teilhabeleistung gewünscht wird; davon verspricht sich der Rehabilitand, das Kind während der Rehabilitation regelmäßig zu sehen),
- wegen religiöser, weltanschaulicher oder sprachlicher Bedürfnisse (Rehabilitand wünscht die medizinische Rehabilitation in einer Rehabilitationseinrichtung, in der er in seiner Muttersprache therapiert wird),
- aufgrund des Geschlechts (eine drogenabhängige Rehabilitandin wünscht die Suchtentwöhnung in einer Einrichtung, die über eine Station für Frauen verfügt – wegen frauenspezifischer Themenschwerpunkte während der Therapie),
- aufgrund örtlicher Verhältnisse (der Rehabilitand wünscht eine kardiologische Rehabilitation an einem Ort, an dem er wegen der besonderen geologischen Heilwässer etc. gleichzeitig seine schwere Schuppenflechten-Erkrankung positiv beeinflussen kann),
- wegen besonderer Bedürfnisse von Müttern und Vätern mit Behinderung bei der Erfüllung ihres Erziehungsauftrages (i. d. R. bis zur Volljährigkeit des Kindes; vgl. § 8 Abs. 1 Satz 3; z. B. der Wunsch einer rehabilitationsbedürftigen, alleinerziehenden Mutter zur Mitaufnahme des Kleinkindes in die Reha-Einrichtung für die Dauer der Maßnahme ist jedenfalls nicht zu beanstanden) und
- aufgrund besonderer Bedürfnissen von Kindern mit Behinderung (vgl. § 8 Abs. 1 Satz 3; z. B. ein Kind möchte in einer Einrichtung therapiert werden, das sich auf die Kinder- und Jugendrehabilitation spezialisiert hat – also in der auch andere Kinder sind).
Der Rehabilitationsträger hat im Übrigen dem Wunsch des Rehabilitanden als "berechtigten Wunsch" stattzugeben, wenn der Rehabilitand anstelle der vom Rehabilitationsträger ausgesuchten Einrichtung eine andere Einrichtung wählt, mit der ein Versorgungsvertrag i.S.d.
besteht. Begründet wird dieses (außerdem) durch die Gesetzesbegründung zur Vorgängervorschrift des § 8 (= § 9 SGB IX; vgl. Rz. 1), in dem es heißt:
Von berechtigten Wünschen, die sich auch auf die Auswahl der Rehabilitationsdienste und -einrichtungen und damit auch auf den Leistungsort erstrecken können, kann nur ausgegangen werden, wenn...