Entscheidungsstichwort (Thema)
Progressive Muskeldystrophie. Hochfrequenzstrahlung. Ursachenzusammenhang. Radarkommission. Bestandskraft. Änderung der Sach- und Rechtslage. Rechtsanwendung. Ermessen. Beweiswürdigung. Voraussetzungen der Erteilung eines Zugunstenbescheides nach § 44 SGB 10
Leitsatz (redaktionell)
In einem Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X kann das Gericht grundsätzlich nicht seine eigene Beweiswürdigung an die Stelle der Beweiswürdigung der Behörde oder des Gerichts setzen, das im vorangegangenen Verfahren entschieden hat.
Orientierungssatz
1. Ergibt sich im Rahmen eines Antrags auf Erlass eines Zugunstenbescheides nach § 44 SGB 10 nichts, was für die Unrichtigkeit der Vorentscheidung sprechen könnte, darf sich die Behörde ohne jede Sachprüfung auf die Bindungswirkung berufen.
2. Nur wenn die Prüfung zu dem Ergebnis führt, dass ursprünglich nicht beachtete Tatsachen oder Erkenntnisse vorliegen, die für die Entscheidung wesentlich sind, ist ohne Rücksicht auf die Bindungswirkung erneut zu entscheiden.
3. Lediglich eine andere Beweiswürdigung ist für die Erteilung eines neuen Bescheides nach § 44 SGB 10 nicht ausreichend. Erforderlich wäre insoweit, dass die Beweiswürdigung einen Verstoß gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungsregeln enthält.
Normenkette
SVG § 81 Abs. 6 S. 2; SGB X § 42 Abs. 1, § 44
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 7. November 2006 geändert.
Die Klage wird in vollem Umfang abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind für das gesamte Verfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Anerkennung einer Muskelerkrankung als Folge einer Wehrdienstbeschädigung unter Rücknahme bindend gewordener Bescheide.
Der ... 1957 geborene Kläger ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 80. Er leidet an einer Muskelerkrankung (progressive Muskeldystrophie).
Der Kläger war vom 1. Juli 1976 bis zum 30. Juni 1988 Soldat auf Zeit. Im Rahmen der dreimonatigen Grundausbildung nahm er u. a. an einer einwöchigen Übung “Überleben Land„ mit einem dreitägigen Fußmarsch teil. Zur Abklärung von anschließend aufgetretenen Beinödemen begab sich der Kläger im Dezember 1976 in die Behandlung des Arztes für innere Medizin Dr. M.. Nach dem dazu erstellten Befundbericht vom 16. Dezember 1976 fühlte sich der Kläger zu diesem Zeitpunkt voll leistungsfähig und subjektiv wohl. Bei den durchgeführten Untersuchungen wurden erhöhte Laborwerte (insbesondere der sog. CK-Wert) festgestellt. Dr. M. äußerte dazu in seinem Befundbericht, dass die Laborwerte auf einen nekrotisierenden Prozess der Muskulatur oder eine latente Myositis bzw. Myopathie hindeuten könnten. Die Ödemsymptomatik sei damit jedoch nicht hinreichend erklärbar. Zur Abklärung werde die Durchführung weiter gehender Untersuchungen z. B. mit EMG oder Muskelbiopsie für dringend erforderlich gehalten. Diese Untersuchungen wurden in der Folge nicht durchgeführt. Nach Absolvierung der Grundausbildung und einer Offiziersausbildung bis September 1977 studierte der Kläger bis April 1981 an der Bundeswehrhochschule in H.. Von September 1981 bis Juni 1982 wurde er in E./T. zum Feuerleitoffizier ausgebildet. Als Feuerleitoffizier war er danach in Ha. beim Flugabwehrbataillon bis Juni 1986 und anschließend bis zum Ausscheiden bei der Bundeswehr als Kampfführungsoffizier eingesetzt.
Am 5. Dezember 1986 ging bei der Beklagten eine Mitteilung über eine mögliche Wehrdienstbeschädigung des Klägers ein. Der Kläger gab an, im Frühjahr 1984 ein Nachlassen der sportlichen Leistungsfähigkeit und eine allgemeine Mattigkeit bemerkt zu haben. Eine durch den Truppenarzt veranlasste Blutuntersuchung habe einen stark erhöhten CK-Wert ergeben. In den Jahren 1984 und 1985 seien Untersuchungen im B.Krankenhaus in H. durchgeführt worden. Eine Behandlung sei nicht durchgeführt worden. Es habe der Verdacht einer Muskelerkrankung bestanden. Seit Anfang 1986 habe sich sein Gesundheitszustand verschlechtert. Er leide unter verstärkten Beschwerden beim Laufen und beim Treppensteigen.
Die Beklagte holte Auskünfte einschließlich einer Stellungnahme des Kommandeurs des Flugabwehrraketenbataillons 38 vom 1. Juli 1987 zu den Belastungen ein, denen der Kläger während seines Dienstes bei der Bundeswehr ausgesetzt war. Nach Beiziehung medizinischer Unterlagen einschließlich des Befundberichtes des Dr. M. vom 16. Dezember 1976, von Entlassungsberichten des B.Krankenhauses aus den Jahren 1984 und 1985 sowie Entlassungsberichten des Universitätsklinikums H.-E. aus dem Jahr 1986 holte die Beklagte die gutachtliche Stellungnahme des Dr. N., Sanitätsamt der Bundeswehr, vom 22. Februar 1988 ein. Mit Bescheid vom 24. März 1988 lehnte sie die Gewährung von Ausgleich nach § 85 Abs. 1 SVG i. V. m. § 81 Abs. 5 Satz 1 SVG ab und führte zur Begründung im Wesentlichen aus: In der medizinischen Wissenschaft bestehe über die Ursache der beim Kläger vorliegenden Gesundheitsstörung “Muskeldystrophie„ Ungewissheit. Die Voraus...