Rz. 7
Die Vollstreckung muss darüber hinaus im Einzelfall unbillig sein. Unbilligkeit ist gemäß der Definition des BFH zu diesem unbestimmten Rechtsbegriff dann gegeben, wenn die Vollstreckung oder einzelne Vollstreckungsmaßnahmen dem Vollstreckungsschuldner einen unangemessenen Nachteil bringen würden, der durch kurzfristiges Zuwarten oder durch eine andere Vollstreckungsmaßnahme vermieden werden könnte. Der Begriff der Unbilligkeit setzt sich damit aus verschiedenen Komponenten zusammen, die kumulativ gegeben sein müssen. Es muss ein unangemessener Nachteil gegeben sein, der durch ein kurzfristiges Zuwarten oder eine andere Vollstreckungsmaßnahme vermieden werden kann. Die aktuelle wirtschaftliche Situation des Vollstreckungsschuldners allein für sich betrachtet ist nicht maßgeblich, sondern die Vollstreckung an sich muss unbillig sein.
2.2.1 Unangemessener Nachteil
Rz. 8
Beim Begriff des unangemessenen Nachteils stellt wie der Begriff der Unbilligkeit einen unbestimmten Rechtsbegriff dar. Von einem unangemessenen Nachteil wird dabei nach wohl allgemeiner Ansicht auszugehen sein, wenn die Nachteile des Vollstreckungsschuldners im konkreten Einzelfall als unangemessen anzusehen sind. Es ist deshalb in jedem Einzelfall zu prüfen, ob von einem solchen unangemessenen Nachteil ausgegangen werden kann. Hierbei sind die Interessen des Vollstreckungsschuldners und der Allgemeinheit an einer Durchführung der jeweiligen Vollstreckung gegeneinander abzuwägen.
Rz. 9
Aufgrund der im Einzelfall zu treffenden Entscheidung sind Aussagen darüber, wann ein unangemessener Nachteil vorliegt, allgemein nur schwer zu treffen. In einigen Fallgruppen, die aus der Rechtsprechung und der Literatur abgeleitet werden können, kann jedoch grundsätzlich von einem unangemessenen Nachteil ausgegangen werden:
- Die Vollstreckungsmaßnahmen führen zu einer wirtschaftlichen Existenzvernichtung des Vollstreckungsschuldners etwa durch eine drohende Insolvenz.
- Die Vollstreckungsmaßnahmen führen zu einem Verlust des Arbeitsplatzes oder von Erwerbsmöglichkeiten.
- Die Vollstreckungsmaßnahmen erfordern, dass der Vollstreckungsschuldner verlustreiche Notverkäufe tätigt; dies gilt aber nur eingeschränkt, da gewisse Verluste bei einem Verkauf von Gegenständen im Rahmen einer Vollstreckung in Kauf genommen werden müssen.
- Die Vollstreckung erfolgt zu einer Unzeit, etwa weil der Vollstreckungsschuldner durch ein Naturereignis oder ähnliche Umstände, auf die er keinen Einfluss hat, betroffen ist. Zu denken ist hier etwa an Tierseuchen, Überschwemmungen usw.
- Die Vollstreckung erfolgt, obwohl eine Gegenforderung des Vollstreckungsschuldners besteht, die dazu führt, dass das, was aufgrund des zu vollstreckenden Anspruchs herausverlangt wird, alsbald wieder an den Vollstreckungsschuldner zurückzugewähren ist; hierbei handelt es sich um einen Ausfluss des allgemeinen Rechtsgrundsatzes "dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est", der aus Treu und Glauben abgeleitet wird. Ergeben kann sich diese Situation etwa bei einer anstehenden Stundung oder einem Erlass.
- Es besteht eine Aufrechnungslage oder eine solche Aufrechnungslage wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten.
- Ist ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung oder Stundung gestellt, hindert dies allerdings grundsätzlich die Vollstreckung noch nicht; von einer Unbilligkeit ist aber auszugehen, wenn absehbar ist, dass dieser Antrag erfolgreich beschieden werden wird. In diesem Fall greift ebenfalls der Grundsatz "dolo agit".
- Hat der Vollstreckungsschuldner eine Ratenzahlung angeboten, ist im jeweiligen Einzelfall zu prüfen, ob dies zu einer Unbilligkeit der Vollstreckung führt. Nach der Rspr. des BFH kann dies allerdings nur der Fall sein, wenn sich aufgrund der Ratenzahlung Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Steuerschuld in einem absehbaren Zeitraum durch die Raten zurückgezahlt wird. Ein Widerruf der Ratenzahlungsvereinbarung ist in dem Fall, dass die Vereinbarung nicht eingehalten wird, nicht erforderlich, sondern die Vollstreckungsbehörde darf die Maßnahmen wieder aufnehmen, ohne einen Widerruf zu erklären.
- Im Einzelfall vermag auch eine Krankheit einen Vollstreckungsaufschub zu begründen. Allerdings müssen die gesundheitlichen Gründe substantiiert vorgetragen werden. Ein allgemeiner Vortrag, dass die Gesundheit durch die Vollstreckungsmaßnahmen beeinträchtigt wird, ist nicht als ausreichend anzusehen.
Rz. 9a
Auch die Folgen der Corona-Pandemie konnten zu einer Unbilligkeit der Vollstreckung führen. Die Finanzverwaltung hat hierzu entsprechende ...