Rz. 48
Kann sich die Finanzbehörde die geforderte Überzeugung von einem Sachverhalt (vgl. Rz. 11ff.) nicht schon aufgrund ihrer (Amts-)Kunde (vgl. Rz. 26) bilden, so muss sie den Versuch unternehmen, die Verhältnisse mit den Beweismitteln des § 92 AO zu ermitteln. Die Finanzbehörde muss also zur Verschaffung der geforderten Überzeugung Beweis erheben. Unter den Begriffen "Ermittlungstätigkeit" und "Beweiserhebung" ist steuerverfahrensrechtlich demnach grundsätzlich dasselbe zu verstehen. Anders als im Prozessrecht wird im Verwaltungsverfahren jedoch noch kein förmliches Beweisverfahren durchgeführt.
3.2.1 Allgemeine Erfahrungen der Finanzbehörden
Rz. 49
Jede Sachverhaltsaufklärung birgt auch einen gewissen Grad an Unsicherheit in sich. Die Aufklärung möglicher Unsicherheiten kann ggf. durch allgemeine Erfahrungen der Finanzbehörden zu vergleichbaren Sachverhalten begrenzt werden. Der Rückgriff auf bestehende allgemeine Erfahrungen der Finanzbehörden im Rahmen der Entscheidungen über Art und Umfang der Ermittlungen ist im Grundsatz eine Frage der Effizienz.
Rz. 50
Grundsätzlich werden Erfahrungssätze aus der allgemeinen Lebenserfahrung oder einer besonderen Fach- und Sachkunde gewonnen. Die gesetzliche Regelung stellt auf konkrete allgemeine Erfahrungen der Finanzbehörden als Institution ab, nicht auf allgemeine abstrakte Erfahrungssätze oder allgemeine Erfahrungen des individuellen Beamten. Liegen Erfahrungen der Finanzverwaltung aus vergleichbaren steuerlichen Sachverhalten vor, so stellt der Rückgriff auf diese Erfahrungen unter Verzicht auf weitergehende Ermittlungshandlungen keinen Verstoß gegen die Gesetzmäßigkeit und den Gleichmäßigkeitsgrundsatz dar, da das materielle Recht zwar nicht auf den festgestellten, so aber wenigstens auf einen als überwiegend wahrscheinlich anzunehmenden Sachverhalt angewendet wird. Im Rahmen des steuerlichen Massenverfahrens ermöglicht dies, nach Maßgabe des aufgrund solcher Erfahrungen vermuteten Kontrollbedürfnisse sachgerechte Schwerpunkte zu bilden.
Rz. 51
Kritisch wird gegen das Abstellen auf allgemeine Erfahrungen der Finanzbehörden vorgebracht, dass dieser unbestimmte Rechtsbegriff ein hohes Maß an Subjektivität aufweise und dass es an einem objektiven Maßstab fehle, der eine objektive Kontrolle ermögliche. Diese Grundsatzkritik ist zwar nachvollziehbar. Der Rückgriff auf Erfahrungen aus einer typisierbaren Vielfalt von vergleichbaren Besteuerungsverfahren ist im Steuerrecht aber keineswegs neu. Gerade im steuerlichen Massenverfahren spielen solche Erfahrungen eine erhebliche praktische Rolle. Der Rückgriff auf die bestehenden Verwaltungserfahrungen insbesondere mit vergleichbaren Fällen ist deshalb auch gar nicht vermeidbar, wenn der Vereinfachungsgedanke im Steuerrecht im Interesse einer Modernisierung des Besteuerungsverfahrens gefördert werden soll (Rz. 6).
Rz. 52 einstweilen frei
3.2.2 Wirtschaftlichkeit
Rz. 53
Der Wirtschaftlichkeitsgrundsatz lässt sich bereits als eine Spielart des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes beschreiben, der zunächst einseitig den Aufwand aufseiten der Verwaltung ins Verhältnis zum zu erwartenden Ertrag setzt, andererseits aber natürlich auch eine synchron zu erbringende Mitwirkungshandlung und den damit verbundenen Aufwand aufseiten des Stpfl. bzw. des Mitwirkungspflichtigen nur dann erforderlich macht, wenn dies durch den damit verbundenen, nicht zwingend fiskalischen Erfolg gerechtfertigt erscheint.
Rz. 54
Nach dem Wirtschaftlichkeitsgrundsatz kann die Finanzbehörde von Ermittlungshandlungen absehen, wenn der voraussichtliche fiskalische Nutzen der Ermittlungshandlung außer Verhältnis zu dem zu erwartenden Ertrag steht. Danach darf die Finanzbehörde in Fällen mit geringen steuerlichen Auswirkungen partiell, aber nicht generell, auf Ermittlungen verzichten, da dies ein Verstoß gegen § 85 AO wäre. Auch kann die Frage der steuerlichen Auswirkungen nicht auf eine profiskalische Betrachtung reduziert werden (Rz. 53). Anderenfalls würde die vom Objektivitätsgrundsatz gebotene (Rz. 21) Sachverhaltsprüfung auch zugunsten des Stpfl. torpediert. Vielmehr wird bei Sachverhaltsermittlungen zugunsten des Stpfl. dem fiskalisch orientierten Wirtschaftlichkeitsprinzip ein deutlich gemindertes Gewicht gegeben werden müssen.
Die rein betriebswirtschaftliche Sicht, die auf die unterschiedlichen Ziele der Nutzenmaximierung, der Kostenminimierung und der Gewinnmaximierung gerichtet ist, verfängt im ordnungsrechtlich geprägten Aufgabenfeld der Finanzverwaltung nicht. Um dies klarzustellen, sahen sich die Regierungsfraktionen gezwungen, im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens ausdrücklich darauf hinzuweise...