Rz. 179

Die "ordnungsgemäße Erfüllung" der Amtsermittlungspflicht durch das FA setzt den Anwendungsrahmen der Korrekturnorm des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO wegen neuer Tatsachen.[1] Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO können Steuerbescheide aufgehoben oder geändert werden, wenn nachträglich Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Die Norm hat jedoch als ungeschriebenes negatives Tatbestandsmerkmal zur Voraussetzung, dass es sich nicht um Tatsachen oder Beweismittel handeln darf, die bei gehöriger Ermittlungstätigkeit der Finanzbehörden bereits vor der erstmaligen Steuerfestsetzung hätten festgestellt werden können bzw. müssen.[2] In diesen Fällen kann die Finanzbehörde nach den Grundsätzen von Treu und Glauben die nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen nicht mehr verwerten. Insofern besteht zugunsten des – womöglich auch bösgläubigen – Stpfl., der seinen eigenen Mitwirkungspflichten genügt hat[3], der Vertrauensschutz, dass die Finanzbehörde den Steuerfall abschließend geprüft hat.

 

Rz. 180

Andererseits muss der Stpfl. seiner Mitwirkungspflicht voll genügt haben.[4]

Die Verletzung der Mitwirkungspflichten durch den Stpfl. kann nicht nur zu einer Minderung des Beweismaßes führen, sondern auch im Rahmen von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO und § 100 Abs. 3 FGO (s. dazu Rz. 185) behördliche Pflichtverletzungen egalisieren und infolgedessen nachteilige Entscheidungen für den Stpfl. bedingen.

 

Rz. 181

Die Finanzbehörde verletzt ihre Ermittlungspflicht dann, wenn sie Unklarheiten und Zweifelsfragen, die sich bei der Prüfung der Steuererklärungen und der eingereichten Unterlagen ohne Weiteres aufdrängen (sog. ersichtliche Unklarheiten), nicht nachgeht.[5] Ein Kontrollbedürfnis besteht insbesondere dann, wenn die Angaben in einer Steuererklärung unschlüssig, widersprüchlich oder lückenhaft sind.[6] Allerdings braucht die Finanzbehörde den Steuererklärungen nach st. BFH-Rspr.[7] nicht mit Misstrauen zu begegnen, sondern kann regelmäßig von deren Richtigkeit und Vollständigkeit ausgehen.[8]

 

Rz. 182

Erforderlich ist aber stets, dass die Tatsachen und Beweismittel in der zur Bearbeitung des Steuerfalls berufenen Dienststelle bekannt sein müssen. Wissen, das in anderen Bereichen der Finanzverwaltung über den Steuerfall vorhanden ist, wird dem für die Änderung des Steuerbescheids zuständigen Bearbeiter nicht zugerechnet. Aus diesem Grund hindern grds. die nach Maßgabe der Weisungen i. S. d. § 88 Abs. 3 und 4 AO zur Bearbeitung des Steuerfalls dem FA nicht zugeleiteten Informationen nicht die spätere Änderung des Steuerbescheids.

Verzichtet das FA aber auf eigene Initiative oder auch aufgrund der bestehenden Weisungslage auf die Sichtung und Auswertung den Finanzbehörden vorliegender Belege oder die Nutzung ihm zugänglicher Erkenntnisquellen, so fällt dies nicht in den Risikobereich des Stpfl., sondern in den der Finanzbehörde.[9]

Darauf, dass eine Tatsache dem FA neu i. S. d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist, kann es sich dementsprechend m. E. jedenfalls dann nicht berufen, wenn in der zuständigen Dienststelle Anlass für den Abruf von beim BZSt verbliebenen Daten bestanden hätte, der Abruf aber aus sachwidrigen Erwägungen unterblieben ist. In diesen Fällen kann wegen eines Ermittlungsfehlers bei der Finanzbehörde eine Änderung zulasten des Stpfl. ausgeschlossen sein.[10]

 

Rz. 183

Wurden die betreffenden Besteuerungsmerkmale im zeitlichen Zusammenhang mit der elektronischen Abgabe der Steuererklärung, aber mit separatem Schreiben rechtzeitig vor der abschließenden Bearbeitung der Erklärung an die zuständige Bearbeitungsstelle geschickt, diese Erkenntnisse dort aber im Veranlagungsverfahren mangels personeller Überprüfung nicht in die Behördenentscheidung einbezogen, rechtfertigt dies nicht die spätere Änderung des Steuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO in Bezug auf die in diesem Schreiben dargestellten Sachverhalte (Rz. 139). Der Finanzverwaltung im Rahmen einer automationsgestützten Veranlagung Vorteile im Bereich der Kenntnis i. S. d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu verschaffen, würde weder dem Willen des Gesetzgebers, noch dem Sinn und Zweck der Einführung des RMS entsprechen.[11]

 

Rz. 184

Steuert das automationsgestützte Risikomanagementsystem nach § 88 Abs. 5 AO bestimmte Angaben des Stpfl. nicht als zu prüfen und risikorelevant aus, kann diese Verfahrensweise nicht notwendig dazu führen, dass der vom Stpfl. angegebene Sachverhalt für den zuständigen Bearbeiter des FA als neu zu gelten hat, mit der Folge, dass hier § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO als Änderungsvorschrift greift. Eine solche einschränkende Auslegung der Kenntnis i. S. d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO auf lediglich solche Tatsachen und Beweismittel, die im Rahmen des Risikomanagementsystems als prüfungsbedürftig ausgesteuert wurden, widerspräche nicht nur der Systematik der Änderungs- und Berichtigungsvorschriften der Abgabenordnung, sondern auch dem Willen und den Motiven des Gesetzgebers bei Einführung der Regelungen in § 88 Abs. 5 AO und § 155 Abs. 4 AO.[12] Das Risikomanage...

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