Prof. Dr. Gerrit Frotscher
3.1 Allgemeines
Rz. 97
§ 138e Abs. 2 AO enthält Tatbestände, die zu einem Kennzeichen für die Mitteilung grenzüberschreitender Steuergestaltungen führen, die nach § 138d Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b AO nicht dem Main Purpose Test unterliegen. Ein Kennzeichen liegt bei diesen Tatbeständen bereits vor, wenn die Gestaltung den Beschreibungen in den Tatbeständen entspricht. Anders als bei dem Main Purpose Test muss keine Absicht der Beteiligten, auch nicht in objektivierter Form, vorliegen, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen. Es ist auch nicht erforderlich, dass die Gestaltung objektiv geeignet ist, einen steuerlichen Vorteil zu erreichen, oder dass ein solcher Vorteil durch die Gestaltung tatsächlich eintritt. Die "Negativliste" der Anlage zu BMF v. 29.3.2021, IV A 3 – S 0304/19/10006:010, BStBl I 2021, 582, wonach bestimmte Gestaltungen nicht zu einem relevanten steuerlichen Vorteil führen, hat daher für die Kennzeichen des Abs. 2 keine Bedeutung. Die Tatbestände des Abs. 2 haben daher den Charakter der Vermeidung einer Gefährdung des Steueraufkommens. Die in den Tatbeständen beschriebenen Gestaltungen werden als abstrakt gefährlich für das Steueraufkommen und daher als unerwünscht angesehen. Die Mitteilungspflicht soll die Finanzverwaltung zeitnah über diese Gestaltungen informieren, um ggf. Gegenmaßnahmen einleiten zu können.
3.2 Gestaltungen mit Beteiligten in bestimmten Steuerhoheitsgebieten, Abs. 2 Nr. 1
3.2.1 Fehlende Ansässigkeit oder Ansässigkeit in einer nicht kooperierenden Jurisdiktion, Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a
3.2.1.1 Allgemeines
Rz. 98
§ 138e Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a AO enthält zwei Tatbestände, die Gestaltungen zum Gegenstand haben, die Zahlungen zwischen verbundenen Unternehmen betreffen und an die Ansässigkeit bzw. fehlende Ansässigkeit des Empfängers der Zahlungen anknüpfen. Die Ansässigkeit des Zahlenden ist ohne Bedeutung. Er kann in einem Hoch- oder Niedrigsteuerland ansässig sein oder keine Ansässigkeit haben. Allerdings wird die Vorschrift nur eingreifen, wenn der Zahlende in der Bundesrepublik steuerpflichtig ist. Das kann der Fall sein, wenn er in der Bundesrepublik ansässig ist, jedoch auch, wenn er hier eine Betriebsstätte unterhält und die Zahlung bei der Betriebsstätte als Betriebsausgabe abzugsfähig ist. Erfasst werden Zahlungen jeder Art und jeden Rechtsgrundes. Die Zahlungen müssen bei dem Zahlenden aber als Betriebsausgaben abzugsfähig sein. Dieses Tatbestandsmerkmal entspricht dem gleichlautenden Begriff in § 138e Abs. 1 Nr. 3 Buchst. d, e AO. Daher wird auf Rz. 73 verwiesen.
Rz. 99
Die Zahlungen müssen zwischen verbundenen Unternehmen erfolgen. Zum Begriff des verbundenen Unternehmens Rz. 130ff. Es muss sich sowohl bei dem Zahlenden als auch dem Zahlungsempfänger um "Unternehmen" handeln, also gewerblich tätige Einheiten. Für den Zahlenden ergibt sich das schon daraus, dass die Zahlungen als "Betriebsausgaben" abzugsfähig sein müssen. Für den Zahlungsempfänger ergibt sich das daraus, dass Zahlungen eines Unternehmens an eine Privatperson i. d. R. keine Betriebsausgaben sein können. Zahlungen einer Privatperson oder Zahlungen an eine Privatperson, die jeweils kein Unternehmen betreiben, fallen daher nicht unter den Tatbestand. Die beteiligten Unternehmen können jede Rechtsform haben, also Körperschaft, Personengesellschaft oder natürliche Person sein, die ein Unternehmen betreibt. Sie müssen aber "verbundene Unternehmen" i. S. d. Abs. 3 sein. Bei einer natürlichen Person ist das nur möglich, wenn sie die Spitze der Unternehmensgruppe ist. Erfasst werden auch Zahlungen zwischen mehr als zwei verbundenen Unternehmen.
3.2.1.2 Fehlende Ansässigkeit
Rz. 100
Zahlungen zwischen verbundenen Unternehmen führen nach Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a aa) dann zu einem Kennzeichen, wenn der Empfänger der Zahlung in keinem Steuerhoheitsgebiet ansässig ist. Zum Begriff des Steuerhoheitsgebietes Rz. 43. Fälle, in denen der Empfänger der Zahlung in keinem Steuerhoheitsgebiet ansässig ist, dürften praktisch selten sein. Möglich ist dies jedoch, wenn die zwei Steuerhoheitsgebiete die Ansässigkeit jeweils unterschiedlich definieren und jedes Steuerhoheitsgebiet daher die Ansässigkeit in dem jeweils anderen Steuerhoheitsgebiet annimmt. Besteht zwischen dem Staat des zahlenden und dem Steuerhoheitsgebiet, in das die Zahlung erfolgt, ein DBA, ermöglicht Art. 4 OECD-MA i. d. R. die Bestimmung der Ansässigkeit. Auch bei Bestehen eines DBA kann es zu einer Nichtansässigkeit kommen, wenn die beteiligten Staaten die Begriffe des DBA unterschiedlich auslegen.
Rz. 101
Ist der Empfänger eine Körperschaft, gilt sie im Zweifel häufig in dem Steuerhoheitsgebiet ansässig, nach dessen Recht sie gegründet worden ist. Bei Körperschaften ist es daher nur in Ausnahmefällen denkbar, dass sie in keinem Steuerhoheitsgebiet ansässig sind, da sie nach dem Recht eines Staates gegründet worden sein müssen. Denkbar ist aber eine fehlende Ansässigkeit, wenn nach den Rechtsordnungen der beteiligten Steuerhoheitsgebiete Qualifikationskonflikte hinsichtlich der Ansässigkeit bestehen. Das kann der Fall sein, wenn beide Staaten den Begriff des "Ortes der Geschäftsleitung" unterschiedlich auslegen und dana...