Prof. Dr. Gerrit Frotscher
2.3.1 Allgemeines
Rz. 20
Abs. 2 regelt, in Ergänzung zu Abs. 1 S. 1, einige praktisch besonders wichtige Fallgruppen für die Schätzung, die sich in der Mehrzahl der Fälle dadurch von anderen Schätzungsfällen unterscheiden, dass der Stpfl. seine Mitwirkungspflichten nicht erfüllt. Abs. 2 konkretisiert damit den allgemeinen Tatbestand des Abs. 1 S. 1. Die Regelung in Abs. 2 ist jedoch nicht abschließend, sodass die Finanzbehörde die Schätzung bei nicht unter Abs. 2 fallenden Fallgruppen unmittelbar auf Abs. 1 S. 1 stützen kann.
2.3.2 Schätzung bei Unaufklärbarkeit
Rz. 21
Die Schätzung ist zulässig, wenn der Stpfl. über seine Verhältnisse keine ausreichende Aufklärung geben kann. In diesem Fall ist der Stpfl. zur Auskunft verpflichtet, er ist auch bereit, diese Pflichten zu erfüllen, die Aufklärung seiner Verhältnisse ist ihm aber nicht möglich. In diesen Fällen verletzt der Stpfl. objektiv seine Mitwirkungspflichten. Dadurch wird die Schätzung gerechtfertigt. Subjektiv trifft ihn jedoch kein Vorwurf. Verschulden des Stpfl. ist daher als Voraussetzung für die Schätzung nicht erforderlich. Verletzung der Aufklärungspflicht liegt auch vor, wenn der Stpfl. keine besonderen Aufzeichnungspflichten zu erfüllen hatte, dann aber nicht in der Lage ist, die notwendigen Auskünfte über seine Verhältnisse zu geben. Dieser Tatbestand des Abs. 2 deckt sich im Wesentlichen mit dem Tatbestand des Abs. 1 S. 1.
Rz. 22
Die bloße, schuldlose Verletzung der Mitwirkungspflichten allein berechtigt die Finanzbehörde jedoch noch nicht zur Schätzung. Es muss hinzukommen, dass der Behörde eigene Ermittlungen nicht möglich oder nicht zuzumuten sind oder dass diese eigenen Ermittlungen keinen Erfolg gehabt haben. Das Maß der Ermittlungspflichten, die die Finanzbehörde erfüllen muss, hängt von dem Verhalten des Stpfl. ab. Je stärker ein Verschulden des Stpfl. vorliegt, desto geringer sind die eigenen Ermittlungspflichten der Finanzbehörde, da der Finanzbehörde weniger Anhaltspunkte für eigene Ermittlungen zur Verfügung stehen. Umgekehrt folgt daraus, dass die Finanzbehörde, wenn den Stpfl. kein Verschulden an der objektiven Nichterfüllung der Erklärungspflicht trifft, alle ihr zumutbaren Ermittlungshandlungen durchführen muss, bevor sie schätzen darf.
2.3.3 Schätzung bei Verletzung der Mitwirkungspflichten
Rz. 23
Die Voraussetzungen der Schätzung sind auch erfüllt, wenn der Stpfl. weitere Auskünfte verweigert oder sonstige Mitwirkungspflichten nicht erfüllt. In diesem Fall wäre ihm die weitere Aufklärung möglich, er lehnt es aber ab, seine Mitwirkungspflichten zu erfüllen. In diesem Fall liegt also eine objektiv und subjektiv schuldhafte Verletzung der Mitwirkungspflichten vor. Gleiches gilt, wenn der Stpfl. keine Steuererklärung oder nur unvollständige Steuererklärungen abgegeben hat. Er ist zur Abgabe der Steuererklärungen auch dann verpflichtet, wenn seine Geschäftsunterlagen beschlagnahmt worden sind. Gibt er aus diesem Grund keine Steuererklärung ab, liegt darin ein Verstoß gegen seine steuerlichen Pflichten, der das FA zur Schätzung berechtigt. Schuldhaft ist nur die Verweigerung einer zumutbaren Mitwirkung. Wann ein Mitwirkungsverlangen unzumutbar wird, ist nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen.
Rz. 24
An sich berechtigt die schuldhafte Verletzung der Mitwirkungspflichten allein die Finanzbehörde nicht, von der Schätzungsbefugnis Gebrauch zu machen. Sie muss vielmehr ihre eigenen Ermittlungsmöglichkeiten in zumutbarem Umfang einsetzen. Allerdings ist das Maß der Zumutbarkeit in dem Fall der schuldhaften Verletzung der Mitwirkungspflichten durch den Stpfl. geringer als wenn der Stpfl. aus objektiven Gründen seine Mitwirkungspflichten nicht erfüllen kann. Die Finanzbehörde muss in diesem Fall zwar die Ermittlungen anstellen, die sie ohne große Schwierigkeiten anstellen kann, kann aber umfangreiche, kostenintensive und schwierige Ermittlungsmaßnahmen unterlassen.
Eine praktisch besonders wichtige hierher gehörende Fallgruppe liegt vor, wenn der Stpfl. seine Steuererklärungspflichten verletzt. Gibt der Stpfl. keine Steuererklärungen ab, ist die Schätzung i. d. R. zulässig, weil die Finanzbehörde dann keine Anhaltspunkte für eine sinnvolle Ermittlungstätigkeit besitzt. Die Finanzbehörde muss nicht erst das Erzwingungsverfahren nach §§ 328ff. AO durchführen; Erzwingung der Abgabe der Steuererklärung und Schätzung stehen gleichgeordnet nebeneinander, sodass die Finanzbehörde je nach Lage des Falls das angemessenere Verfahren auswählen kann. Auf keinen Fall muss die Veranlagungsstelle die Bücher des Stpfl. anfordern, um auf diese Weise die Besteuerungsgrundlagen zu ermitteln. Der hiermit verbundene Arbeitsaufwand wäre unverhältnismäßig, sodass er der Finanzbehörde nicht zuzumuten ist. Andererseits kann es der Finanzbehörde zuzumuten sein, Geschäftspartner des Stpfl. nach dem Umfang der Umsätze mit ihm zu befragen, wenn es sich um verhältnismäßig wenige Unternehmen handelt.
Rz. 2...