Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 142
Das Ergebnis der Schätzung soll den wirklichen Besteuerungsgrundlagen möglichst nahe kommen; es darf nicht auf Ermessenserwägungen beruhen, da kein Ermessensspielraum besteht. Es sind nach Abs. 1 S. 2 alle steuerlich bedeutsamen Umstände, soweit sie bekannt sind oder ermittelt werden können, bei der Schätzung zu berücksichtigen. Damit sind auch Aufwendungen, Verluste und andere steuermindernde Faktoren in die Schätzung einzubeziehen, wenn genügend Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese Faktoren tatsächlich vorliegen. Es müssen die vorhandenen Möglichkeiten zur Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen in zumutbarer Weise ausgeschöpft werden. Buchführungsunterlagen, gegen deren sachliche Richtigkeit keine Bedenken bestehen, sind auszuwerten, auch wenn die Buchführung insgesamt formell nicht ordnungsmäßig ist. Die Verpflichtung für die Finanzbehörde, Ermittlungshandlungen vorzunehmen, gilt für die Schätzung nach § 162 Abs. 1 AO uneingeschränkt. In den Schätzungsfällen des § 162 Abs. 2 AO, bei denen der Stpfl. seine Mitwirkungspflichten nicht erfüllt hat, kann das Maß der Zumutbarkeit von Ermittlungshandlungen der Finanzbehörde eingeschränkt sein. Diese Einschränkung der Ermittlungspflicht ist allerdings eine tatsächliche Einschränkung, keine rechtliche. Je weniger der Stpfl. seine Mitwirkungspflichten erfüllt, desto weniger Anhaltspunkte für eigene Ermittlungen stehen der Finanzverwaltung zur Verfügung. Entsprechend können intensive Ermittlungshandlungen für die Finanzbehörde unzumutbar sein, weil es sich mangels Anhaltspunkten um "Ermittlungen ins Blaue hinein" handeln würde. Trotz der Nichterfüllung der Mitwirkungspflichten bestehende Ermittlungsmöglichkeiten muss die Finanzbehörde aber ausschöpfen, bekannten Anhaltspunkten nachgehen.
Rz. 143
Das Ergebnis der Schätzung muss schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein. Die Finanzbehörde muss versuchen, das Ergebnis zu erzielen, das die größte Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit für sich hat. Die Schätzung darf nicht den Denkgesetzen und den allgemeinen Erfahrungssätzen widersprechen.
Rz. 144
Die Schätzung ist keine Ermessensentscheidung; das Ergebnis der Schätzung ist grundsätzlich von den Gerichten voll nachprüfbar. Im Rahmen der möglichen Schätzungsmethoden und -ergebnisse steht der Finanzbehörde jedoch ein Beurteilungsspielraum zu. Ist die Schätzung durch die Finanzbehörde rechtswidrig, hat das FG im Klagverfahren eine eigene Schätzung durchzuführen. Dementsprechend ist § 162 AO nach § 96 Abs. 1 S. 1 Halbs. 2 FGO im finanzgerichtlichen Verfahren anwendbar. Zur Wahl der Schätzungsmethode, die im Ermessen der Finanzbehörde liegt, vgl. Rz. 147ff.
Rz. 145
Bei der Schätzung muss sich die Finanzbehörde an diejenige Gewinnermittlungsart halten, die der Stpfl. zulässigerweise gewählt hat. Ermittelt der Stpfl. seine Gewinne nach § 4 Abs. 3 EStG, und ist diese Gewinnermittlung formell und/oder materiell nicht ordnungsgemäß, muss das FA den Gewinn nach der Methode des § 4 Abs. 3 EStG ermitteln. Es darf nicht eine Schätzung nach Grundsätzen des Betriebsvermögensvergleichs, § 4 Abs. 1 EStG, § 5 EStG, vornehmen. Gewinnermittlung durch Schätzung ist daher keine eigene Gewinnermittlungsart, sondern muss im Rahmen der vom Stpfl. zulässigerweise gewählten Gewinnermittlungsart erfolgen.
Rz. 146
Es liegt im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens der Finanzbehörde zu entscheiden, welche von mehreren geeigneten Schätzungsmethoden angewandt werden soll. Der Stpfl. hat keinen Anspruch auf Anwendung einer bestimmten Schätzungsmethode. Die Finanzbehörde braucht auch das mit der von ihr gewählten Schätzungsmethode gewonnene Ergebnis nicht mithilfe einer anderen Schätzungsmethode zu überprüfen. Hat die Finanzbehörde eine geeignete Schätzungsmethode gewählt, ist die Durchführung der Schätzung anhand dieser Methode Rechtsanwendung, sodass die Schätzung in vollem Umfang von dem Gericht nachprüfbar ist. Rechtsfehlerhaft ist es nur, wenn die Finanzbehörde eine angesichts des maßgeblichen und bekannten Sachverhalts ungeeignete Schätzungsmethode anwendet.