Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 193
Eine tatsächliche Verständigung kann in jedem Stadium des Verfahrens erzielt werden. Sie ist einerseits möglich im Rahmen einer Außenprüfung, etwa in der Schlussbesprechung, ist aber andererseits nicht an eine Außenprüfung gebunden. Sie ist daher auch möglich im Steuerfestsetzungsverfahren, im Rechtsbehelfs- oder Rechtsmittelverfahren. Straf- und Bußgeldverfahren sind jedoch keine Steuerverfahren i. e. S.; ob in ihrem Rahmen eine tatsächliche Verständigung möglich ist, richtet sich nach strafprozessualen Regeln, nicht nach abgabenrechtlichen. Das gilt aber nur für tatsächliche Verständigungen, die im Straf- oder Bußgeldverfahren Wirkung entfalten sollen, nicht für ein parallel dazu betriebenes Steuerfestsetzungsverfahren. Im Steuerfestsetzungsverfahren kann also eine tatsächliche Verständigung getroffen werden, auch wenn ein Straf- oder Bußgeldverfahren schwebt.
Rz. 194
Zeitlich tritt die Bindung in dem Zeitpunkt ein, in dem beide Seiten ihre bindenden Erklärungen abgegeben, also sich mit Bindungswillen geeinigt haben. Es ist nicht erforderlich, dass im Hinblick auf die Verständigung disponiert worden ist. Die Bindung tritt also bereits vor Erlass der darauf beruhenden Steuerbescheide ein. Es ist darauf hinzuweisen, dass sich diese Rechtsfolge nur rechtfertigen lässt, wenn man in der tatsächlichen Verständigung einen Vertrag sieht. Leitet man die Bindung, wie es der BFH tut, aus dem Grundsatz von Treu und Glauben ab, erfordert die Bindung, dass derjenige, der sich auf die Bindung beruft, im Vertrauen auf die Verständigung disponiert hat. Der BFH hat zutreffend erkannt, dass dann eine Bindungswirkung kaum eintreten würde. Der BFH, der bei der Ableitung der Bindung aus Treu und Glauben geblieben ist, wird dadurch zur Inkonsequenz gezwungen, wenn die Bindungswirkung mit Abschluss der Verständigung eintreten soll.
Rz. 195
In ihrer Wirkung bezieht sich die tatsächliche Verständigung auf diejenigen Besteuerungszeiträume, für die die Unsicherheit aufgetreten ist, im Fall der Außenprüfung also auf die Vz des Prüfungszeitraums. Die tatsächliche Verständigung hat grundsätzlich keine Auswirkungen auf die künftige Verwirklichung von Sachverhalten. Lediglich wenn der in der Vergangenheit verwirklichte Sachverhalt Auswirkungen auf zukünftige Besteuerungszeiträume hat, kann sich die tatsächliche Verständigung sowohl auf einen abgeschlossenen Sachverhalt beziehen als auch auf die Zukunft, z. B. Nutzungsdauer eines Wirtschaftsguts oder Zugehörigkeit eines Wirtschaftsguts zum Betriebsvermögen. Auch in diesem Fall ist eine über den jeweiligen Besteuerungszeitraum hinausreichende Bindung aber nur anzunehmen, wenn diese von allen Beteiligten gewollt und dies im Wortlaut der tatsächlichen Verständigung klar und eindeutig zum Ausdruck gekommen ist. Die tatsächliche Verständigung hat daher grundsätzlich nicht die gleichen Wirkungen wie eine verbindliche Zusage nach § 204 AO.