Prof. Dr. Gerrit Frotscher
2.1 Allgemeine Voraussetzungen
Rz. 29
Voraussetzung für eine abweichende Steuerfestsetzung ist, dass die Erhebung der Steuer nach der Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Es kommt nicht darauf an, ob bereits die Festsetzung der Steuer unbillig ist. Da die Festsetzung allein noch nicht zu Aufwendungen des Stpfl. führt, ist für Billigkeitsmaßnahmen kein Raum, wenn zwar die Festsetzung der Steuer, nicht aber ihre Erhebung unbillig ist. Liegt andererseits die Festsetzung der Steuer noch im Rahmen der Billigkeit, wäre aber ihre Erhebung unbillig, ist es gerechtfertigt, diese Billigkeitsgründe bereits bei der Festsetzung der Steuer zu berücksichtigen.
Im Folgenden werden die Tatbestandsmerkmale der Billigkeit dargestellt, die für § 163 AO und § 227 AO einheitlich gelten. Bei § 227 AO werden nur die Besonderheiten dieser Vorschrift kommentiert, sodass für die allgemeinen Regeln auf die Kommentierung zu§ 163 AO zurückgegriffen werden muss.
Rz. 30
Antragsberechtigt für die Billigkeitsmaßnahme ist derjenige, bei dem die Festsetzung erfolgt, bei dem sich also die abweichende Festsetzung auswirkt. Bei sachlicher Unbilligkeit ist das die Personengesellschaft auch insoweit, als sie nicht Steuerschuldner ist, die Besteuerungsgrundlagen bei ihr aber einheitlich festgestellt werden. Unbilligkeit kann sich auch nur aus der Belastung mit deutscher Steuer ergeben.
2.2 Begriff der Unbilligkeit
Rz. 31
Eine Billigkeitsmaßnahme kommt in Betracht, wenn die Erhebung der Steuer "nach der Lage des einzelnen Falles" i. S. d. § 163 Abs. 1 S. 1, § 227 AO unbillig wäre. Es ist daher immer auf den Einzelfall abzustellen; Billigkeit ist die Gerechtigkeit des Einzelfalls. Der Grundsatz der Billigkeit hat die Aufgabe, das bei der Anwendung der Steuergesetze zustande gekommene Ergebnis so den Besonderheiten des Einzelfalles anzupassen, dass der Gedanke der Gerechtigkeit im Einzelfall verwirklicht wird. Dies kann aus sachlichen Gründen (sachliche Unbilligkeit, vgl. Rz. 36) oder aus persönlichen Gründen (persönliche Unbilligkeit, vgl. Rz. 169) notwendig sein. Unbilligkeit kann in der Festsetzung der Steuer oder in ihrer Erhebung liegen. Entsprechend sind Billigkeitsmaßnahmen im Festsetzungsverfahren nach § 163 AO oder im Erhebungsverfahren nach § 227 AO möglich. Der Begriff der Unbilligkeit ist dabei in beiden Verfahrensabschnitten der Gleiche.
Rz. 32
Da der Begriff der Billigkeit auf den Einzelfall abstellt, kommt eine Billigkeitsmaßnahme immer nur bei atypischen Einzelfällen in Betracht. Daher ist die Bildung eines subsumierbaren abstrakten Tatbestands nicht möglich. Es muss jeweils anhand eines Einzelfalles geprüft werden, ob das bei strenger Anwendung des Gesetzes erzielte Ergebnis den Besonderheiten dieses Einzelfalls gerecht wird. Das schließt es jedoch nicht aus, gleich gelagerte Fälle zu einer Gruppe zusammenzufassen, aber auch dann muss das durch das Gesetz vorgegebene Ergebnis "nach Lage des einzelnen Falles" unbillig sein. Auch in diesen Fällen muss daher Unbilligkeit in jedem einzelnen Fall vorliegen. Das schließt typisierende Regelungen aus. Unbillig ist demnach eine sich aus dem Gesetz ergebende Rechtsfolge, die aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalles ungerecht wirkt und damit das Ziel des Gesetzes, gerechte Ergebnisse zu erzielen, verfehlt. Dabei kann sich die Unbilligkeit nur aus den Belastungsentscheidungen des Steuergesetzgebers ergeben. Gründe außerhalb des Steuerrechts wie wirtschafts-, arbeits-, sozial- oder kulturpolitische Gründe können eine steuerrechtliche Unbilligkeit nicht begründen.
Rz. 32a
Besonders ist es bei der Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme zu berücksichtigen, wenn die Maßnahme der Verwaltung in verfassungsrechtlich geschützte Rechte eingreift. Eine Billigkeitsmaßnahme kann in einem solchen Fall ein sonst im Einzelfall verfassungswidriges Gesetz verfassungsrechtlich zulässig machen (vgl. Rz. 124).
Rz. 33
Es ist davon auszugehen, dass die Erhebung einer gesetzmäßig entstandenen Steuer grundsätzlich nicht unbillig ist. Der Gesetzgeber hat regelmäßig die Interessen der Stpfl. gegen die Interessen des Staates an der Erzielung der Steuereinnahmen abgewogen. Die Belastung des Stpfl. ist daher regelmäßig nicht unbillig. Die Unbilligkeit kann sich daher nur als Ausnahme ergeben. Härten, die im Gesetz selbst liegen und unabhängig von den Umständen des Einzelfalls bei jeder Tatbestandsverwirklichung eintreten, sind daher nicht unbillig und müssen in Kauf genommen werden.
Rz. 34
Die Frage, ob eine nur in einem Einzelfall eintretende Härte unbillig ist, muss danach beantwortet werden, ob unter Abwägung der schutzwürdigen Interessen des Steuerfiskus und des Stpfl. die bei strenger Anwendung des Gesetzes sich ergebenden Folgen nach allgemeiner Auffassung mit den Grundsätzen von Recht und Billigkeit vereinbar sind oder nicht. Eine unbillige Härte für den Stpfl. liegt nicht schon dann vor, wenn er bei Ablehnung der Billigkeitsmaßnahme zwar eine wirtschaftliche Einbuße erleidet, ihm aber ausreichend andere ...