Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 64
Bei einem Erwerb von Todes wegen ist der Beginn der Festsetzungsfrist nach § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO bis zum Ablauf des Kalenderjahrs gehemmt, in dem der Erwerber von dem Erwerb Kenntnis erlangt. Dies betrifft Erben, Miterben, Vor- und Nacherben, Pflichtteilsnehmer und Vermächtnisnehmer. Damit soll verhindert werden, dass die Festsetzungsfrist für die ErbSt abgelaufen ist, bevor der Begünstigte von dem Erbfall Kenntnis erlangt hat. Maßgeblich ist die Kenntnisnahme durch den endgültigen Erben, nicht durch den, der Erbe geworden war, dann aber durch Ausschlagung die Erbenstellung mit rückwirkender Kraft verloren hat, oder einen vermeintlichen Erben. Maßgebend ist somit in erster Linie, ob der Stpfl. sichere Kenntnis von seiner Erbeinsetzung erlangt hat. Der Erbe muss mit einer solchen Zuverlässigkeit und Gewissheit Kenntnis von seinem unangefochtenen Erbschaftserwerb erlangt haben, dass er in der Lage ist und von ihm daher auch erwartet werden kann, seine Anmeldepflicht nach § 30 ErbStG zu erfüllen; er muss sowohl von der Höhe seines Erbrechts (Erbanteil bei Miterbenschaft oder Kenntnis von der Alleinerbschaft) als auch von dem Erwerbsgrund Kenntnis haben. Einzelheiten über die ererbten Vermögensgegenstände und deren Wert muss er jedoch nicht kennen. Erteilung des Erbscheins ist nicht erforderlich. Zur Kenntniserlangung gehört auch die sichere Kenntnis davon, dass keine Umstände vorliegen, die ernstliche Zweifel an dem Bestand der Erbeinsetzung aufkommen lassen.
Rz. 64a
Die Kenntnis des Erben von der Erbeinsetzung bestimmt sich grundsätzlich nach dessen subjektiver Kenntnis. Er muss jedoch nicht nur sein Erbrecht kennen, sondern auch davon ausgehen müssen, dass seine Erbeinsetzung Bestand hat. Aus objektiv erkennbaren Umständen fließende Zweifel an dem Bestand der Erbeinsetzung führen auch dann zur Anlaufhemmung, wenn der Erwerber diese Zweifel nicht teilt, sondern aufgrund seiner besseren Kenntnis weiß, dass die Erbeinsetzung Bestand haben wird. In einem Fall, in dem der Erbe wegen Mordes an dem Erblasser angeklagt wurde und daher die Möglichkeit der Erbunwürdigkeit bestand, hat der BFH entschieden, dass die Festsetzungsfrist erst mit dem Freispruch von der Mordanklage beginne. Erst zu diesem Zeitpunkt bestehe eine ausreichende Kenntnis, dass der Erwerb auch Bestand habe. Es kommt daher nicht nur auf die subjektive Kenntnis des Erben an, der in dem entschiedenen Fall ja wusste, dass er den Erblasser nicht ermordet hatte, also nicht erbunwürdig war. Die Rechtsprechung stellt darauf ab, dass der Erbe nach den objektiven Umständen nicht sicher sein konnte, dass die Erbeinsetzung Bestand haben werde. Es dürfte sich aber um einen Sonderfall gehandelt haben. Der BFH (a. a. O.) hat auch darauf abgestellt, dass andernfalls bis zum rechtskräftigen Urteil unsicher gewesen wäre, ob die Festsetzungsfrist abgelaufen war oder nicht.
Rz. 65
Bei gewillkürter Erbfolge ist diese sichere Kenntnis von der Erbeinsetzung angesichts der Testierfreiheit des Erblassers erst mit Eröffnung des Testaments erlangt. Bei gesetzlicher Erbfolge liegt diese Kenntnis nur vor, wenn der Erbe davon ausgehen kann, dass kein Testament vorliegt, und er sicher weiß, dass ein Verwandter einer vorhergehenden Ordnung nicht vorhanden ist. Für die sichere Kenntnis des Erben ist sowohl bei gewillkürter als auch bei gesetzlicher Erbfolge die Erteilung eines Erbscheins nicht erforderlich. Sind die Verhältnisse des Erbfalls allerdings völlig unklar, liegt die sichere Kenntniserlangung des Erben erst mit Erteilung des Erbscheins vor, in dem seine Erbberechtigung festgestellt wird. Die Erteilung des (richtigen) Erbscheins an den Erben ist also regelmäßig der späteste Zeitpunkt, zu dem der Erbe die sichere Kenntnis erlangt. Auch dann kann aber die sichere Kenntnis entfallen und die Anlaufhemmung eintreten, wenn die Erbeinsetzung von anderen Erbberechtigten bestritten wird. Dann liegt eine sichere Kenntnis erst mit rechtskräftigem Abschluss des Erbscheinverfahrens vor.
Rz. 66
Ist ein Erbvergleich abgeschlossen worden, um Streitigkeiten wegen der Gültigkeit des Testaments oder sonstiger Fragen der Erbeinsetzung zu lösen oder zu vermeiden, erlangt der Erbe die sichere Kenntnis des Erwerbs erst mit Abschluss bzw. Wirksamwerden des Vergleichs.
Rz. 67
Andere Umstände, wie Testamentsvollstreckung, Nachlasspflegschaft und Möglichkeit der Erbausschlagung, haben keinen Einfluss auf die für die Anlaufhemmung maßgebende sichere Kenntnis des Erben vom Erwerb. Es kommt auf die sichere Kenntnis des Erben, nicht die des Testamentsvollstreckers oder des Nachlasspflegers an. Entsprechend tritt die Anlaufhemmung auch dann ein, wenn das FA die Erbschaftsteuer gegen den Testamentsvollstrecker oder Nachlasspfleger bzw. im Wege der Schätzung oder nach § 165 AO vorläufig festsetzen könnte, dies aber nicht tut.
Bei Unklarheiten in der Erbeinsetzung und Rechtsstreitigkeiten, z. B. bei Streitigkeiten zwischen gesetzlichen Erben und Testamentserben, tritt die Anla...