Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 135
Ob eine Tatsache neu i. S. d. § 173 AO ist, richtet sich nach dem Wissensstand der organisationsmäßig zur Veranlagung berufenen Dienststelle (vgl. Rz. 118ff.) des FA. Das gilt auch dann, wenn die Bearbeitung auf mehrere Stellen verteilt wird. Dann sind alle mit der Bearbeitung betraute Dienststellen die organisationsmäßigzuständige Dienststelle, deren Wissen insgesamt als bekannt gilt. Das ist der Fall, wenn der Steuerfall von einer Abteilung bearbeitet und dann bei Vorliegen besonderer Schwierigkeit an eine andere Stelle abgegeben und ggf. von dieser Stelle wieder zurückgegeben wird. Der Finanzbehörde sind dann die Kenntnisse aller in dem Steuerfall involvierten Dienststellen bzw. der Inhalt aller von diesen Dienststellen geführten Akten zuzurechnen. Es kann der Verwaltung grundsätzlich nicht gestattet sein, durch eine interne Organisationsmaßnahme ihren Wissensstand eigenmächtig zu verringern und dies zulasten des Stpfl. ausschlagen zu lassen. Aus diesem Grund kann die Verwaltung auch nicht organisch zusammenhängende Teile der Veranlagung auf zwei Dienststellen verteilen und sich dann bei fehlerhaftem Arbeiten einer der Dienststellen auf deren Unwissenheit berufen. Derartige interne Organisationsformen dürfen keine Außenwirkung, insbesondere nicht zulasten des Stpfl., entfalten.
Das gilt auch, wenn eine mit der Bearbeitung des Steuerfalls betraute Stelle nach den internen Organisationsanweisungen den Fall ohne Beiziehung von Akten bearbeiten soll (aktenloses Veranlagungsverfahren). Auch dann gilt der Inhalt der Akten als bekannt.
Rz. 136
Wird der Inhalt der Akten elektronisch gespeichert, gelten die gleichen Grundsätze. Der Sachbearbeiter muss die für den jeweiligen Steuerfall gespeicherten Daten heranziehen und verwerten. Tut er dies nicht, liegt ein Verstoß gegen die Ermittlungspflicht vor, sodass die gespeicherten Daten als bekannt gelten.
Rz. 136a
Diese Grundsätze gelten auch für das ausschließlich automationsgestützte Verfahren nach § 155 Abs. 4 AO. Die Finanzbehörde muss jedenfalls sicherstellen, dass bei dieser automationsgestützten Verarbeitung die der Finanzbehörde in elektronischer Form vorliegenden Besteuerungsgrundlagen und sonstigen Daten in die Steuerfestsetzung einfließen. Fraglich kann aber sein, ob dies auch für Besteuerungsgrundlagen gilt, die der zuständigen Stelle in analoger Form vorliegen und deshalb bei der Steuerfestsetzung nicht automatisch berücksichtigt werden. M. E. ist dies zu bejahen. § 155 Abs. 4 AO macht die ausschließlich automationsgestützte Bearbeitung davon abhängig, dass die Steuerfestsetzung auf der Grundlage der Informationen erfolgt, die der Finanzbehörde vorliegen, beschränkt dies aber nicht auf in elektronischer Form vorliegende Informationen und Daten. Bei der ausschließlich automationsgestützten Verarbeitung sind daher auch in analoger Form vorliegende Daten zu berücksichtigen. Die Finanzverwaltung muss sicherstellen, dass bei Vorliegen von analogen Daten der Fall aus dem automatisierten Verfahren ausgesteuert und unter Berücksichtigung der analogen Daten bearbeitet wird. Es gibt keine Rechtsgrundlage dafür, in analoger Form vorliegende Daten als "neu" zu behandeln und damit die Änderungsbefugnis der Finanzbehörde auszuweiten. Allerdings setzt dies voraus, dass der Stpfl. seine Pflichten und Obliegenheiten erfüllt hat. Wenn er Daten in analoger Form einreicht, muss er nach § 150 Abs. 7 AO in der elektronischen Steuerklärung darauf hinweisen. Das hat nach § 155 Abs. 4 S. 3 AO zur Folge, der Steuerfall aus dem automatisierten verfahren ausgesteuert und manuell bearbeitet wird.