Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 17
§ 174 AO lässt in weitem Umfang die Durchbrechung der Bestandskraft zu, teilweise sogar die Durchbrechung der Festsetzungsfrist. Dagegen ermöglicht die Vorschrift keine Durchbrechung der Rechtskraft, d. h. der Durchbrechung eines rechtskräftigen Urteils. Nach § 110 Abs. 2 FGO bleiben die Vorschriften über die Korrektur von Verwaltungsakten nur insoweit anwendbar, als dadurch die Rechtskraft des Urteils nicht beeinträchtigt wird. Die Rechtskraft hat also Vorrang vor den Änderungsvorschriften.
Rz. 18
Das bedeutet, dass bei einer durch rechtskräftiges Urteil bestätigten oder erfolgten Steuerfestsetzung eine Änderung nur insoweit möglich ist, als das Urteil nicht gerade über den Sachverhalt, der die widerstreitende Steuerfestsetzung bildet, entschieden hat. Soweit das Urteil entschieden hat, kann die widerstreitende Steuerfestsetzung nicht mehr beseitigt werden, muss also hingenommen werden. Ergehen zwei Urteile zu dem gleichen Sachverhalt, aber zu verschiedenen Veranlagungszeiträumen, ist § 174 AO schon deshalb nicht anwendbar, weil es sich dann nicht um "denselben Sachverhalt" handelt, sondern die Urteile jeweils unterschiedliche Besteuerungszeiträume betreffen, also in ihrem Regelungsgehalt nicht kollidieren.
Beispiel:
In einem Rechtsstreit über die Erfassung eines Umsatzes im Jahr 02 ergeht ein rechtskräftiges Urteil, dass dieser Umsatz nicht im Jahr 02 zu erfassen sei, weil er dem Jahr 01 zuzuordnen sei.
Bei der Änderung der Steuerfestsetzung des Jahres 01 stellt sich aufgrund einer neuen BFH-Rspr. heraus, dass der Umsatz doch in das Jahr 02 gehörte. Die Steuerfestsetzung des Jahres 02 kann nun nicht mehr geändert werden, obwohl der Tatbestand des § 174 Abs. 3 sowie 4 AO vorliegt, da die Rechtskraft des Urteils, das gerade über die Frage der Zuordnung dieses Umsatzes zum Jahr 02 entschieden hat, vorrangig ist.
Rz. 19
BFH v. 18.3.2004, V R 23/02, BStBl II 2004, 763, BFH/NV 2004, 1125 löst diesen Fall dadurch, dass die Rechtskraft des unrichtigen Urteils der Änderung nach § 174 Abs. 4 AO nicht entgegensteht. Grund hierfür sei, dass zwei Urteile vorliegen, die beide in Rechtskraft erwachsen sind. Bei einer solchen Situation könne die Rechtskraft, die Rechtsfrieden herstellen solle, ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen. Daher könne der durch das rechtskräftige Urteil bestätigte (unrichtige) Steuerbescheid noch geändert werden.
Rz. 20
M. E. ist dem nicht zu folgen; das durch den BFH aufgehobene gegenteilige Urteil des FG Köln v. 18.4.2002, 15 K 7740/99, EFG 2002, 886 war richtig. Es lagen keine widerstreitende Urteile über den gleichen Veranlagungszeitraum vor, sondern über zwei verschiedene Veranlagungszeiträume. Die Rechtskraft der beiden Urteile kollidierte also nicht. Es war lediglich ein Urteil mit einem unrichtigen Inhalt rechtskräftig geworden; diese Unrichtigkeit stand aufgrund des rechtskräftigen zweiten Urteils fest. Ein sachlich unrichtiger Inhalt eines Urteils ist aber allein kein Grund, die Rechtskraft zu durchbrechen. M. E. ergibt sich, im Gegensatz zu BFH v. 18.3.2004, V R 23/02, BStBl II 2004, 763, BFH/NV 2004, 1125, auch aus § 110 Abs. 2 FGO eindeutig, dass die Rechtskraft Vorrang vor den Änderungsvorschriften hat. Eine Änderung des Steuerbescheids ist nach dieser Vorschrift (nur) möglich, wenn dadurch die Rechtskraft des Urteils nicht beeinträchtigt wird. Im Streitfall hätte es näher gelegen, die unrichtige Steuer aus Gründen der sachlichen Unbilligkeit (Unrichtigkeit des ersten Urteils wurde erst durch die neue BFH-Rspr. offenbar) nach § 227 AO zu erlassen.
Rz. 21
FG Köln v. 14.3.1996, 2 K 971/95, EFG 1996, 638 will Fälle dieser Art durch Treu und Glauben lösen. Dem Stpfl. soll bei der Veranlagung 01 untersagt sein, sich darauf zu berufen, dass die Besteuerungsgrundlage in einem anderen Jahr zu erfassen sei. M. E. ist dies sehr bedenklich, da es bedeutet, dass Folge einer unrichtigen Steuerfestsetzung (der des Jahres 02) ist, dass wissentlich eine andere Steuer (die des Jahres 01) unrichtig festgesetzt wird. Dies wäre ein erheblicher Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtmäßigkeit der Besteuerung i. V. m. der Abschnittsbesteuerung, der einer besonderen Rechtfertigung bedürfte. Der Stpfl. kann zwar durch ein solches Verhalten gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoßen; allein darin, dass er eine vom FG akzeptierte Ansicht vertreten hat, die sich später als falsch herausstellt, wird man einen solchen Verstoß aber nicht sehen können.