Prof. Dr. Gerrit Frotscher
2.1 Tatbestand
2.1.1 Übersicht
Rz. 23
Abs. 1 behandelt den Fall, dass ein bestimmter Sachverhalt mehrfach zuungunsten eines oder mehrerer Stpfl. berücksichtigt worden ist, obwohl er insgesamt nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen (positiv widerstreitende Steuerfestsetzung zuungunsten des/der Stpfl.). Es kann sich um folgende Fallgruppen handeln:
- Der gleiche Vorgang wird bei einem Stpfl. im gleichen Besteuerungszeitraum bei zwei verschiedenen Steuerarten erfasst.
Ein Vorgang wird bei dem gleichen Stpfl. im Jahr 01 sowohl der ESt als auch der ErbSt unterworfen.
Kein Fall einer widerstreitenden Steuerfestsetzung ist es aber, wenn der gleiche Vorgang im gleichen Besteuerungszeitraum bei einem Stpfl. zweimal im gleichen Besteuerungsverfahren (bei der gleichen Steuerart) erfasst wird. Dann liegt nur eine (falsche) Steuerfestsetzung vor, nicht aber zwei widerstreitende. Vgl. Rz. 24.
- Der gleiche Vorgang wird bei einem Stpfl. in zwei verschiedenen Besteuerungszeiträumen bei der gleichen Steuerart oder verschiedenen Steuerarten erfasst.
Eine Einnahme wird sowohl im Jahr 01 als auch im Jahr 02 der ESt unterworfen. Ein Vorgang wird bei dem gleichen Stpfl. im Jahr 01 von der ESt, im Jahr 02 von der ErbSt erfasst.
- Der Stpfl. wird für den gleichen Zeitraum zweimal zu der gleichen Steuerart herangezogen.
Wegen Unklarheiten über die örtliche Zuständigkeit veranlagen sowohl das FA X als auch das FA Y den Stpfl. für das Jahr 01 zur ESt; das gleiche FA zieht den gleichen Stpfl. irrtümlich zweimal zu der gleichen Steuer heran.
- Der gleiche Vorgang wird bei zwei Stpfl. zu gleichen oder verschiedenen Steuerarten herangezogen.
Das gleiche Wirtschaftsgut wird im gleichen Besteuerungszeitraum bei den Stpfl. X und Y aktiviert.
Wegen des gleichen Vorgangs wird der Stpfl. X zur ESt, der Stpfl. Y zur ErbSt herangezogen.
- Der gleiche Vorgang wird bei zwei verschiedenen Stpfl. in verschiedenen Besteuerungszeiträumen von der gleichen oder verschiedenen Steuern erfasst.
Eine Einnahme wird im Besteuerungszeitraum 01 bei dem Stpfl. X, im Besteuerungszeitraum 02 bei dem Stpfl. Y erfasst.
Der gleiche Vorgang wird im Besteuerungszeitraum 01 bei dem Stpfl. X von der ESt, im Besteuerungszeitraum 02 bei dem Stpfl. Y von der ErbSt erfasst.
2.1.2 "Bestimmter Sachverhalt"
Rz. 24
Der Tatbestand des Abs. 1 setzt voraus, dass ein "bestimmter Sachverhalt" in mehreren Steuerbescheiden berücksichtigt worden ist, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen.
Grundlegend für die Anwendung des Tatbestands des Abs. 1 ist daher der Begriff des "bestimmten Sachverhalts". Das Gesetz gibt mit diesem Ausdruck einen unbestimmten Rechtsbegriff, der nach dem Zweck der Vorschrift zu konkretisieren ist.
Rz. 25
Ein Sachverhalt ist ein Lebensvorgang, d. h. ein oder mehrere Ereignisse in der Außenwelt, die aufgrund ihres inneren Zusammenhangs als zusammengehörig anzusehen sind und somit Teile eines einheitlichen Ganzen bilden, und der steuerlich relevant ist. Dabei ist nicht auf die einzelne steuererhebliche Tatsache abzustellen, sondern auf den einheitlichen, für die Besteuerung maßgebenden Sachverhaltskomplex. Der Begriff des "bestimmten Sachverhalts" ist bei allen Tatbeständen des § 174 AO der Gleiche.
Rz. 25a
Maßgebend sind nicht die steuerlichen Wirkungen. So ist eine Zuschussgewährung ein einheitlicher Sachverhalt, und zwar auch dann, wenn der Zuschuss in dem einen Steuerbescheid als Minderung der Herstellungskosten, in dem anderen Steuerbescheid als steuerpflichtige Einnahme behandelt worden ist. Das hat zur Folge, dass sich der Sachverhalt in dem einen Bescheid durch die Erfassung des Zuschusses als Einnahme einmalig, dagegen in anderen Bescheiden durch die AfA von den um den Zuschuss verminderten Herstellungskosten als über mehrere Jahre gestreckter Vorgang auswirken kann. Der Sachverhaltskomplex setzt sich aus einer oder mehreren Tatsachen zusammen. So besteht der "Sachverhaltskomplex" bei der Ansparabschreibung in den Tatsachen, die für die Bildung und Auflösung der Ansparrücklage von Bedeutung sind, sowie aus den Merkmalen, aus denen sich die Eigenschaft als Existenzgründer ergibt. Ebenfalls einen einheitlichen Sachverhaltskomplex bildet die Bestellung eines Gesamterbbaurechts an mehreren Grundstücken. Der Sachverhaltskomplex der Gewinnausschüttung erfasst bei der ausschüttenden Gesellschaft nicht nur die KSt, sondern auch die KESt. Entsprechend bilden bei dem Empfänger der Ausschüttung die Einnahme aus der Ausschüttung und die anrechenbare KESt einen "einheitlichen Sachverhalt". Einen "Sachverhalt" können auch Erklärungen des Stpfl. bilden, wenn hieraus irrige Folgerungen gezogen worden si...