Prof. Dr. Gerrit Frotscher
3.1.1 Allgemeines
Rz. 75
Nach Abs. 2 gilt die Regelung des Abs. 1 entsprechend, wenn ein bestimmter Sachverhalt mehrfach zugunsten eines oder mehrerer Stpfl. berücksichtigt worden ist; ein Antrag ist zur Berichtigung naturgemäß nicht erforderlich.
Durch diesen Tatbestand werden folgende Fallgruppen erfasst:
- Der gleiche Vorgang wird bei einem Stpfl. im gleichen Besteuerungszeitraum bei zwei verschiedenen Steuerarten erfasst.
Vom Lieferanten in Rechnung gestellte USt wird von dem Stpfl. in unvereinbarer Weise als Vorsteuer abgezogen und gleichzeitig bei der ESt als nicht abziehbare USt behandelt.
- Der gleiche Vorgang wird bei einem Stpfl. in zwei verschiedenen Besteuerungszeiträumen in unvereinbarer Weise erfasst.
Eine Betriebsausgabe wird sowohl im Besteuerungszeitraum 01 als auch im Besteuerungszeitraum 02 gewinnmindernd erfasst.
- Der gleiche Vorgang wird bei zwei verschiedenen Stpfl. im gleichen Besteuerungszeitraum steuermindernd angesetzt.
Eine Betriebsausgabe wird im gleichen Besteuerungszeitraum bei dem Stpfl. X und dem Stpfl. Y angesetzt.
- Der gleiche Vorgang wird bei zwei Stpfl. in verschiedenen Besteuerungszeiträumen steuermindernd erfasst.
Die gleiche Betriebsausgabe wird bei dem Stpfl. X im Besteuerungszeitraum 01, bei dem Stpfl. Y im Besteuerungszeitraum 02 berücksichtigt.
Rz. 76
Für den Stpfl. günstige widerstreitende Steuerfestsetzungen können an für ihn ungünstige widerstreitende Steuerfestsetzungen der Vorjahre anknüpfen, wenn etwa im Beispiel 5 der Rz. 23 an die doppelte Aktivierung in den Folgejahren bei beiden Stpfl. doppelte Abschreibungen anknüpfen.
Der Tatbestand des Abs. 2 (Widerstreit zugunsten des Stpfl.) ist das Gegenstück zu dem Tatbestand des Abs. 1 (Widerstreit zuungunsten des Stpfl.). Es wird daher auf Rz. 24ff. sowie für die Rechtsfolgen auf Rz. 60 verwiesen.
3.1.2 Verursachung durch den Steuerpflichtigen
Rz. 77
Wegen des Grundsatzes des Vertrauensschutzes darf die unrichtige der widerstreitenden Steuerfestsetzungen nur aufgehoben oder geändert werden, wenn die doppelte, und damit widerstreitende Berücksichtigung des günstigen Sachverhalts auf einen Antrag oder auf eine Erklärung des Stpfl. (bei mehreren Stpfl. desjenigen, bei dem der günstige Sachverhalt zu Unrecht berücksichtigt worden ist) zurückzuführen ist. Die Änderung nach § 174 Abs. 2 AO setzt voraus, dass die fehlerhafte Berücksichtigung des Sachverhalts auf einen Antrag oder eine Erklärung des Stpfl. zurückgeht, sodass die Ursache für den Fehler in einer Äußerung des Stpfl. liegt. Die Anwendung des § 174 Abs. 2 AO ist daher nur möglich, wenn der Stpfl. selbst, allein oder überwiegend, die fehlerhafte Berücksichtigung des Sachverhalts verursacht hat und aus diesem Grund nicht auf die Bestandskraft des für ihn günstigen Steuerbescheids vertrauen kann. Es genügt Verursachung durch den Stpfl. Verschulden ist nicht erforderlich, daher auch nicht Kenntnis oder Kennenmüssen des Stpfl. Andererseits muss Verursachung vorliegen, d. h. eine Situation, bei der es bei richtiger Erklärung des Stpfl. nicht zu der widerstreitenden Steuerfestsetzung gekommen wäre. Hätte die Finanzbehörde auch bei richtiger Steuererklärung eine widerstreitende Steuerfestsetzung erlassen, kann der Widerstreit zugunsten des Stpfl. nicht durch § 174 Abs. 2 beseitigt werden.
Rz. 78
"Erklärung" i. S. d. Abs. 2 ist nicht nur die auf einem amtlichen Formular erstellte Steuererklärung, sondern alle Mitteilungen des Stpfl. an das FA, auch formlose Erklärungen, Anlagen zur ESt-Erklärung, dem FA eingereichte Bilanz und Einnahme-Überschussrechnung o. Ä. So ist ein Widerstreit durch den Stpfl. verursacht, wenn Aufwendungen für gemeinsam genutzte Wirtschaftsgüter (Gemeinschaftspraxis) sowohl in der Erklärung zur gesonderten Feststellung als auch in der Gewinn- und Verlustrechnung der Einzelpraxis erfasst werden.
Rz. 79
Für die Frage, ob die Berücksichtigung des Sachverhalts auf eine Erklärung oder einen Antrag des Stpfl. zurückgeht, ob also der Stpfl. die widerstreitende Steuerfestsetzung verursacht hat, ist von dem Zweck dieser Einschränkung des § 174 Abs. 2 AO auszugehen. Die den Stpfl. schützende Bestandskraft kann danach durchbrochen werden, wenn die Ursache für die fehlerhafte der beiden widerstreitenden Steuerfestsetzungen in seinem Herrschaftsbereich lag. Der Stpfl. ist dafür verantwortlich, wenn Fehler aus seiner Sphäre zu einer Unrichtigkeit und damit Widerstreit der Steuerfestsetzungen führen. Folge dieser Verantwortlichkeit ist, dass die Bestandskraft des Steuerbescheids durchbrochen werden kann, weil der Stpfl. keinen Vertrauensschutz verdient.
Rz. 80
In den Verantwortungsbereich des Stpfl. fällt in jedem Fall die unrichtige und unvollständige Darstellung des steuerlich erheblichen Sachverhalts sowie eine missverständliche Darstellung. Auf einen Antrag oder eine Erklärung des Stpfl. geht die unrichtige Steuerfestsetzung daher zurück, wenn er eine unrichtige, aber auch eine unvollständige Steuererklärung abgegeben hat. Die Ursache für die unrichtige...