Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 89
Abs. 2 verweist auf Abs. 1; damit ist auch im Rahmen der Änderung widerstreitender Steuerfestsetzungen nach Abs. 2 eine Durchbrechung der Festsetzungsfrist möglich. Das bedeutet, dass die Änderung nach Abs. 2 ohne Rücksicht auf den Ablauf der Festsetzungsfrist noch innerhalb eines Jahres, nachdem der letzte Bescheid bestandskräftig geworden ist, möglich ist. Bedeutung hat diese Regelung, wie bei Abs. 1, in den Fällen, in denen bei Eintritt der Bestandskraft des zuletzt unanfechtbar werdenden Bescheids entweder die Festsetzungsfrist für den unrichtigen Bescheid bereits abgelaufen ist, oder wenn der unrichtige Bescheid zuletzt bestandskräftig wird und gleichzeitig mit Eintritt der Bestandskraft die Festsetzungsfrist für diesen Bescheid abläuft (weil bei dem unrichtigen Bescheid eine Ablaufhemmung eingetreten war). Im Übrigen vgl. das Beispiel in Rz. 71.
Rz. 90
Während nach Abs. 1 zur Wahrung der Jahresfrist der Antrag auf Änderung der unrichtigen Steuerfestsetzung genügt, enthält Abs. 2 keine Regelung. Abs. 1 ist insoweit trotz der Verweisung nicht anwendbar, da in den Fällen des Abs. 2 naturgemäß kein Antrag erforderlich ist. Sinngemäß wird daher die Jahresfrist durch den Änderungsbescheid gewahrt. Da es sich um die Wahrung der Festsetzungsfrist handelt, ist entscheidend nicht das Wirksamwerden des Änderungsbescheids; entsprechend § 169 Abs. 1 AO genügt es, wenn der Änderungsbescheid vor Ablauf der Jahresfrist den Bereich der für die Steuerfestsetzung zuständigen Finanzbehörde verlassen hat bzw. bei öffentlicher Zustellung des Änderungsbescheids der Steuerbescheid oder eine Benachrichtigung ausgehängt wird.
Rz. 91
Erfährt die Finanzbehörde erst später als ein Jahr nach Eintritt der Bestandskraft des zuletzt unanfechtbar gewordenen Bescheids, dass widerstreitende Steuerfestsetzungen vorliegen und daher ein Bescheid unrichtig sein muss, besteht keine Möglichkeit mehr für eine Änderung nach § 174 AO. In Sonderfällen stellt sich die Frage, ob nicht Abs. 4 zu einer Lösung führt.
Das gleiche Wirtschaftsgut ist im Veranlagungszeitraum 01 bei den Stpfl. X und Y aktiviert worden; richtig wäre die Aktivierung bei Y. Die Festsetzungsfrist endet für X wegen einer Ablaufhemmung im Jahr 08, für Y bereits 07 (vgl. Beispiel in Rz. 71). Für das Jahr 02 wird beiden Stpfl. die Abschreibung gewährt; die Festsetzungsfrist endet für beide Festsetzungen im Jahr 07, da keine Ablaufhemmung zu berücksichtigen ist. In diesen Fällen könnte die unrichtige Steuerfestsetzung für das Jahr 01 bis zum Jahr 09 geändert werden, die für das Jahr 02 aber nur bis zum Jahr 08.
Bei dieser Fallgestaltung stellt sich die Frage, ob nicht aufgrund des Abs. 4 die unrichtige Steuerfestsetzung des Jahres 02 (Abschreibung) geändert werden kann, wenn X die Änderung des Bescheids 01 wegen der unrichtigen Aktivierung nach Abs. 1 beantragt hat. An sich ermöglicht es Abs. 4, bei einer aufgrund eines Antrags geänderten Festsetzung anschließend, ohne Rücksicht auf Bestandskraft und Ablauf der Festsetzungsfrist, durch Folgeänderung die richtigen steuerlichen Konsequenzen aus dem Sachverhalt zu ziehen. Entscheidend ist für den vorliegenden Fall, ob der Begriff "Sachverhalt" so extensiv ausgelegt werden kann, dass auch alle mittelbaren rechtlichen Folgerungen hierunter fallen (d. h., die Abschreibung des Jahres 02 ist die mittelbare rechtliche Folgerung aus dem Sachverhalt des Jahres 01, der Aktivierung). M. E. ist das nicht möglich. Abs. 4 gilt nur für den Sachverhalt, der infolge des Antrags rechtlich anders gewürdigt wurde, nicht aber für daran anknüpfende "Fernwirkungen". Die an die Aktivierung anknüpfende Abschreibung ist daher ein neuer Sachverhalt. Das kann auch aus dem Gesetzeszweck begründet werden, da Abs. 4 lediglich erreichen will, dass eine auf Antrag des Stpfl. entschiedene Frage sich auch steuerlich richtig auswirken kann. Mit der Entscheidung über die Aktivierung ist aber nicht notwendig eine Entscheidung über die Abschreibung verbunden. Insoweit handelt es sich um einen eigenen, von der Aktivierung abzugrenzenden Sachverhalt.