Prof. Dr. Gerrit Frotscher
5.3.1 Allgemeines
Rz. 171
Abs. 4 hat eine doppelte Rechtswirkung. Die Vorschrift ermöglicht, wie auch Abs. 1–3, die Durchbrechung der Bestandskraft des unrichtigen Bescheids; darüber hinaus lässt die Vorschrift aber auch noch die Durchbrechung der Festsetzungsfrist zu. Die Vorschrift gibt daher in einem sonst nicht üblichen Umfang dem Prinzip der Richtigkeit der Besteuerung Vorrang vor dem Grundsatz der Rechtssicherheit. Tragender Grund für die Durchbrechung der Festsetzungsfrist ist, dass der Stpfl. durch seinen Änderungsantrag weiß, dass Folgeänderungen zu ziehen sind, und daher nicht schutzbedürftig ist.
Rz. 172
Systematisch ist bemerkenswert, dass die Änderung eines Bescheids die Durchbrechung der Bestandskraft und der Festsetzungsfrist eines anderen Bescheids zur Folge hat, der für einen anderen Besteuerungszeitraum, eine andere Steuerart und, bei Abs. 5, sogar gegen einen anderen Stpfl. ergangen ist. Im Vordergrund der gesetzlichen Regelung steht daher, anders als z. B. bei § 171 Abs. 3 AO, nicht der Verwaltungsakt, sondern der Sachverhalt. Es soll nicht ein unrichtiger Verwaltungsakt durch einen für den gleichen Besteuerungszeitraum, die gleiche Steuerart und den gleichen Stpl. ergehenden fehlerfreien Verwaltungsakt ersetzt werden, sondern es soll die richtige Besteuerung eines bestimmten Sachverhalts hergestellt werden, ohne Rücksicht auf Besteuerungszeitraum, Steuerart und Stpfl.
5.3.2 Nachträgliche Änderung oder nachträglicher Erlass eines Steuerbescheids
Rz. 173
Es sind alle aus dem streitigen Sachverhalt fließenden Folgerungen zu ziehen; eine Unvereinbarkeit i. S. d. Kollision der Regelungsbereiche von Steuerbescheiden, wie bei Abs. 1-3, braucht nicht vorzuliegen. Die Finanzbehörde ist auch bei dem Erlass des Änderungsbescheids nicht an die in dem ursprünglichen Steuerbescheid vertretene Auffassung gebunden. Es kann daher, unabhängig von dem ersten Bescheid, aus dem Sachverhalt die richtigen Rechtsfolgen ziehen. Sie braucht dabei nicht dieselben Vorschriften anzuwenden wie in dem ersten Bescheid, noch müssen die Rechtsfolgen gleich sein oder zu einer gleichen Belastung führen.
Die Änderung des zweiten Bescheids muss "nachträglich" erfolgen, also nach der Änderung des ersten Bescheids. Das Merkmal "nachträglich" gehört zum Tatbestand, nicht zur Rechtsfolge; vgl. daher Rz. 145.
Rz. 174
Aus der Verwendung des Ausdrucks "können … durch Erlass oder Änderung …" ist zu schließen, dass die Änderung im Ermessen der Verwaltung steht; vgl. Rz. 125a. Die Rechtsprechung vertritt jedoch die Ansicht, dass aus § 174 Abs. 4 AO keine Ermessensleitlinien abgelesen werden können. Daher sei der Begriff "können" nicht als Ermessensbegriff, sondern als rechtliches Können aufzufassen. Da die Verwaltung an den Grundsatz der Rechtmäßigkeit der Besteuerung gebunden ist, bedeutet dies für die Finanzbehörde eine Verpflichtung zur Änderung. Praktisch dürfte der Unterschied dieser Ansicht zu der Annahme eines Ermessensbegriffs gering sein, da angesichts des Grundsatzes der Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung i. d. R. eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegen wird.
Rz. 175
Die Anwendung des Abs. 4 wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass aufgrund dieser Änderungsvorschrift letztlich mehr Steuern von dem Stpfl. verlangt werden als ohne seinen Antrag bzw. Rechtsbehelf. Voraussetzung ist nur, dass der angefochtene Steuerbescheid zugunsten des Stpfl. geändert wurde, nicht aber, dass der ganze Vorgang letztlich zugunsten des Stpfl. wirkt bzw. dass die Änderung dem Antrag des Stpfl. entspricht. Ein "Verböserungsverbot" gibt es bei Abs. 4 nicht. Das gerichtliche Verböserungsverbot bezieht sich nur auf den Streitgegenstand, nicht auf etwaige Folgewirkungen. Damit müssen sich die für den Stpfl. günstige Änderung und die Folgeänderung nach Abs. 4 betragsmäßig nicht entsprechen. Ein Verböserungshinweis dahingehend, dass die Änderung zu einer letztlich ungünstigen Folgeänderung führen kann, ist nicht erforderlich. Streitgegenstand ist nur der erste Bescheid, der zugunsten des Stpfl. geändert wird, insoweit also keine Verböserung eintritt.
Rz. 176
Bei Vorliegen des Tatbestands des Abs. 4 sind aus dem Sachverhalt "die richtigen steuerlichen Folgen" durch Erlass oder Änderung der Steuerfestsetzung zu ziehen. Das bedeutet, dass alle Fehler der ursprünglichen Steuerfestsetzung, soweit sie mit dem irrig beurteilten Sachverhalt zusammenhängen, berichtigt werden können. Bei Erlass oder Änderung des Steuerbescheids nach Abs. 4 tritt also, soweit der irrig beurteilte, bestimmte Sachverhalt betroffen ist, keine Bindung an die ursprüngliche Steuerfestsetzung ein. Das FA ist daher auch nicht an eine unrichtige Sachverhaltswürdigung oder unrichtige Rechtsauffassung in dem ursprünglichen Bescheid gebunden, auch nicht, wenn insoweit Bestandskraft eingetreten ist.
Rz. 177
Abs. 4 ermöglicht jedoch nicht jede Anpassung an einen geänderten Steuerbescheid, sondern nur das Ziehen der richtigen steuerlichen Folgerungen "aus dem Sachverhalt". Entscheidend ist, dass aus demselben Sachverhalt an...