Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 194
Nach § 180 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 AO sind Feststellungen sowohl von Einkünften nach Abs. 1 Nr. 2a als auch des Werts der vermögensteuerlichen Wirtschaftsgüter nach Abs. 1 Nr. 3 nicht vorzunehmen, wenn es sich um einen Fall von geringerer Bedeutung handelt. Das ist insbesondere der Fall, wenn die Höhe des festzustellenden Betrags und seine Aufteilung auf die Beteiligten feststehen bzw. leicht zu ermitteln sind und die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen bei den Beteiligten gering oder nahezu ausgeschlossen ist. Ein Fall von geringerer Bedeutung kann auch vorliegen, wenn der Gegenstand der Feststellung geringfügig ist.
Durch VO v. 19.12.2022 ist eine dem § 180 Abs. 3 Nr. 2 AO entsprechende Regelung in § 8 der VO zu § 180 Abs. 2 AO aufgenommen worden.
Rz. 195
Der Begriff des Falls von geringer Bedeutung ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der im jeweiligen Einzelfall nach dem Zweck des Instituts der gesonderten Feststellung auszulegen ist. Dieser Zweck besteht in der Verhinderung widersprüchlicher Entscheidungen verschiedener Finanzbehörden und in der Erleichterung des Verfahrens dadurch, dass identische Fragen nicht von mehreren Finanzbehörden entschieden werden müssen. Das Verfahren der gesonderten Feststellung darf nicht lediglich zu einer Erschwerung des Verfahrens führen, wenn die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen gering ist. Ein Fall geringerer Bedeutung liegt danach vor, wenn eine gesonderte Feststellung keine Erleichterung des Verfahrens darstellen würde und es nicht notwendig oder tunlich ist, widersprechende Entscheidungen zu verhindern. Ein Fall geringerer Bedeutung liegt danach vor, wenn die Gefahr widersprechender Entscheidungen gegenüber den einzelnen Feststellungsbeteiligten nahezu ausgeschlossen ist. Das kann angenommen werden, wenn es sich um einen kurzfristigen und leicht überschaubaren Vorgang handelt, und die festzustellenden Besteuerungsgrundlagen nach Art und Höhe unstreitig sind. Diese Voraussetzungen können auch vorliegen, wenn es sich um hohe Einkünfte in Verbindung mit einem Auslandssachverhalt handelt. Daher ist die Annahme eines Falls von geringer Bedeutung nicht bei bestimmten Sachverhaltskonstellationen per se ausgeschlossen. Maßgebend ist dagegen, dass die Gefahr widersprechender Entscheidungen bei den Beteiligten nahezu ausgeschlossen ist. Ob ein Fall geringerer Bedeutung vorliegt, ist für jeden Veranlagungszeitraum gesondert zu prüfen. Es kann daher für einen Vz ein Fall geringerer Bedeutung vorliegen, während dies für einen anderen Vz nicht der Fall ist.
Rz. 196
Auf keinen Fall handelt es sich um einen Fall geringerer Bedeutung, wenn
- der Fall kompliziertere Rechtsfragen aufwirft,
- die Festsetzungsfrist für einen oder alle Folgebescheide abgelaufen ist, die Feststellungsfrist aber noch nicht und über § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO durch eine gesonderte Feststellung die einheitliche Rechtsanwendung in den Folgebescheiden der Feststellungsbeteiligten sichergestellt ist,
- es um die Ermittlung von Besteuerungsgrundlagen und deren Abgrenzung zwischen mehreren Vz aufgrund eines nicht leicht zu überblickenden Sachverhalts geht,
- zwischen der Finanzbehörde und den Beteiligten oder zwischen den Beteiligten Streit über die Höhe des festzustellenden Betrags und/oder seine Aufteilung besteht,
- streitig ist, wer von mehreren Nutzungsberechtigten AfA vornehmen kann,
- verschiedene Einkunftsarten und/oder Gewinnermittlungsarten in Betracht kommen,
- ungewöhnliche Verhältnisse vorliegen, z. B. außergewöhnliche technische AfA geltend gemacht wird,
- fraglich ist, ob aufgrund von Verträgen zwischen Familienangehörigen gemeinschaftliche Einkünfte vorliegen (z. B. Familiengesellschaft, gemeinschaftliche Vermietung von Grundvermögen); die Frage der Anerkennung von Verträgen zwischen Familienangehörigen wirft i. d. R. schwierige Sach- und Rechtsfragen auf, die im Feststellungsverfahren zu entscheiden sind, erforderlichenfalls, wenn das gemeinschaftliche Beziehen von Einkünften nicht anerkannt wird, durch negativen Feststellungsbescheid,
- es um die gesonderte Feststellung von Hinterziehungszinsen geht (vgl. Rz. 74); die dabei zu beurteilenden Fragen von vorsätzlichem Verhalten können nur in Ausnahmefällen (Geständnis/Zustimmung aller Beteiligten) von geringerer Bedeutung sein,
- die Einkünfte geschätzt werden mussten, selbst wenn die Stpfl. gegen die Schätzung keine Einwendungen erhoben haben. Eine Schätzung ist immer mit Unsicherheit belastet und daher nicht auszuschließen, dass die Höhe der Schätzung bei der Festsetzung der ESt bei einem der Beteiligten doch noch streitig wird und daher abweichende Entscheidungen drohen.
IDagegen wird ein Fall geringerer Bedeutung vorliegen, wenn
- ein Beteiligungsverhältnis nur kurze Zeit bestanden und sich in einem leicht überschaubaren Vorgang erschöpft hat, der hinsichtlich Einkünfteermittlung und -verteilung keine Schwierigkeit bietet,
- eine Zurechnung von Einkünften auf mehrere Personen offensichtlich unter keinem rec...