Prof. Dr. Gerrit Frotscher
1.1 Zur Systematik der Bindungswirkung
Rz. 1
§ 182 Abs. 1 S. 1 AO enthält die Regelung über die Wirkung der Feststellungsbescheide, die für die "Folgebescheide" bindend sind. Diese Formulierung in § 182 AO ist systematisch falsch und auch unvollständig. Das Gesetz schafft damit ein Begriffspaar "Feststellungsbescheid – Folgebescheid", das es so nicht gibt. Richtiger wären die Begriffspaare "Feststellungsbescheid – Steuerbescheid" und "Grundlagenbescheid – Folgebescheid". Feststellungsbescheide sind regelmäßig auch Grundlagenbescheide, aber nicht alle Grundlagenbescheide sind Feststellungsbescheide. Allerdings ist der Feststellungsbescheid nach § 251 Abs. 3 AO kein Grundlagenbescheid, so dass auch Feststellungsbescheide denkbar sind, die keine Grundlagenbescheide sind. Es gibt andererseits Grundlagenbescheide, die keine Feststellungsbescheide sind. Auch die Definition der Grundlagenbescheide in § 171 Abs. 10 AO bestimmt ausdrücklich, dass auch andere Verwaltungsakte als Feststellungsbescheide Grundlagenbescheide sein können. Grundlagenbescheide können beispielsweise ESt-Bescheide sein, die bindend für andere Bescheide, auch für Feststellungsbescheide sind. Es muss sich nicht einmal um Steuerbescheide handeln, sondern es können auch sonstige Verwaltungsakte der Finanzbehörde oder anderer Behörden sein. Grundlagenbescheide sind nach der Definition des § 171 Abs. 10 AO bindend für andere Verwaltungsakte. Das Gesetz enthält jedoch ausdrückliche keine Regelung, die diese Bindung konkret anordnet. § 182 Abs. 1 S. 1 AO enthält nur die Bestimmung, dass Feststellungsbescheide für andere Verwaltungsakte bindend sind. Diese Regelung beschränkt sich daher auf Feststellungsbescheide. Für andere Verwaltungsakte, die Bindungswirkung haben sollen, fehlt eine entsprechende Bestimmung. Die Bindungswirkung ist nicht mit dem Begriff der "Feststellungsbescheide" verbunden, sondern mit dem der Grundlagenbescheide. Da die AO jedoch keinen Titel über Grundlagenbescheide enthält, ist § 182 AO bei der gesonderten Feststellung eingeordnet worden. Aufgrund dieser systematischen Stellung ist § 182 AO auf Grundlagenbescheide, die keine Feststellungsbescheide sind, nicht unmittelbar anwendbar.
Rz. 2
Die Rechtsprechung hat bei Verwaltungsakten, in denen über Sachverhalte entschieden wird, die Tatbestandsmerkmale einer steuerlichen Vorschrift sind, ohne tiefergehende Argumentation eine Bindungswirkung für die Steuerbescheide angenommen und sie damit entsprechend § 171 Abs. 10 AO als Grundlagenbescheide eingeordnet. Der Umstand, dass das Bestehen eines Verwaltungsakts und sein Inhalt materiell-rechtliche Tatbestandsvoraussetzung einer steuerlichen Vorschrift sind, bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Finanzbehörde an diesen Verwaltungsakt gebunden ist. Die Finanzbehörde könnte auch in eigener Verantwortung prüfen, ob der Verwaltungsakt wirksam ist, welchen Inhalt er hat und ob die dort getroffenen Entscheidungen rechtmäßig sind. Indem der BFH aaO der Finanzbehörde diese Prüfungszuständigkeit verweigert und ihre Bindung an diesen Verwaltungsakt annimmt, wendet er im Ergebnis den für Feststellungsbescheide geltenden § 182 Abs. 1 S. 1 AO analog auf Verwaltungsakte an, die keine Feststellungsbescheide sind. Dadurch wird die Lücke geschlossen, die dadurch entstanden ist, dass die AO keine ausdrückliche Bestimmung über die Bindungswirkung von Grundlagenbescheiden enthält, die keine Feststellungsbescheide sind.
Rz. 3
Ein Feststellungsbescheid sowie jeder andere Grundlagenbescheid setzt begrifflich voraus, dass es einen Bescheid gibt, für den der Grundlagenbescheid bindend ist. § 182 Abs. 1 AO nennt diese abhängigen Bescheide "Folgebescheide" und enthält eine Legaldefinition dieses Begriffs. Folgebescheide können danach andere Feststellungsbescheide, Steuermessbescheide, Steuerbescheide und Steueranmeldungen sein. Diese Aufzählung der Folgebescheide ist aber nicht vollständig, da, wie § 182 Abs. 1 S. 2 AO zeigt, auch Verwaltungsakte, die im Erhebungsverfahren ergehen, Folgebescheide sein können.
Rz. 4
Ein Grundlagenbescheid ergeht, um eine sachgerechte, einheitliche Entscheidung sicherzustellen. Diese Entscheidung kann gegenüber mehreren Betroffenen wirken (einheitliche Feststellung) und/oder hinsichtlich mehrerer Steuerarten. Diesen Zweck kann die gesonderte Feststellung als Grundlagenbescheid aber nur erfüllen, wenn ihr maßgebender Inhalt bei Erlass des Folgebescheids unverändert und ohne erneute Prüfung zu übernehmen ist. Dieses Prinzip regelt § 182 Abs. 1 AO. Soweit danach die Wirkung des Grundlagenbescheids reicht, darf nach § 182 Abs. 1 AO bei Erlass des Folgebescheids keine erneute Prüfung erfolgen. In den Folgebescheid ist der Inhalt des Grundlagenbescheids zu übernehmen, ohne Rücksicht darauf, ob er richtig oder falsch ist (hierzu Rz. 23). Das gilt unabhängig davon, ob bei Erlass des Folgebescheids der Umfang des Regelungsbereichs des Grundlagenbescheids erkannt wurde oder erkannt werden konnte.
Rz. 5
Neben der in § 182 Abs. 1 AO enthaltenen materiellen Wirkung des Fe...