4.8.1 Allgemeines (§ 191 Abs. 1 S. 1 AO)
Rz. 35
Während die Finanzbehörde den existenten Steueranspruch nach § 85 AO geltend machen muss und nur ausnahmsweise von dessen Festsetzung gem. §§ 156 bzw. 163 AO absehen darf, "kann" die Finanzbehörde einen Haftungsbescheid erlassen – Ermessensentscheidung i. S. v. § 5 AO. Es besteht für sie keine Rechtspflicht zur Realisierung eines gesetzlich bestehenden Haftungsanspruchs. Dies gilt selbst dann, wenn die Finanzbehörde den Steueranspruch beim Schuldner oder bei anderen Haftenden nicht geltend machen kann, also für den Haftungsschuldner auch keine Regressmöglichkeit besteht. Die aus dem Legalitätsprinzip folgende Realisierungspflicht hinsichtlich des Steueranspruchs greift auf den Haftungsanspruch nicht durch.
Rz. 36
Die Geltendmachung der Haftung liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Finanzbehörde, für dessen Ausübung die Grundsätze des § 5 AO gelten. Dieses besteht zum einen als Handlungs- bzw. Entschließungsermessen, also hinsichtlich der Frage, "ob" der Anspruch und ggf. in welcher Höhe er geltend gemacht werden soll, und zum anderen als Auswahlermessen, wenn mehrere Haftungsschuldner zur Leistung verpflichtet sind.
4.8.2 Begründung der Ermessensausübung
Rz. 37
Im Haftungsbescheid hat die Finanzbehörde ihre Ermessensausübung zu begründen. ) Es sind die Gründe, die zur Inanspruchnahme gerade des betroffenen Haftungsschuldners geführt haben, darzustellen und in gerichtlich nachprüfbarer Weise gegeneinander abzuwägen.
Die Darstellung der Ermessensgründe hat, wenn sie im Haftungsbescheid unterblieben ist, spätestens in der Einspruchsentscheidung zu erfolgen. Die Begründung ist Grundlage der finanzgerichtlichen Entscheidung, da das FG die Ermessensausübung gemäß § 102 FGO nur eingeschränkt überprüfen kann, nicht aber eigenes Ermessen ausüben darf . Nicht dargestellte Ermessenserwägungen können von der Finanzbehörde nicht mehr im Klageverfahren nachgeschoben, sondern nur noch ergänzt werden. Insofern ist es nicht von § 102 S. 2 FGO abgedeckt, eine Änderung der sich aus den Ermessenserwägungen ergebenden Rechtsfolgen etwa in Form einer Herabsetzung des Haftungsbetrags vorzunehmen. Ein insofern neuer Haftungsbescheid würde aber gem. § 68 FGO zum Gegenstand des Klageverfahrens werden.
Rz. 38
Die Begründungspflicht ist hinsichtlich der Ermessensausübung grundsätzlich zwingend. Fehlt die erforderliche Begründung, so ist regelmäßig davon auszugehen, dass eine Ermessensausübung nicht stattgefunden hat. Diese Nichtausübung des Ermessens führt als "Ermessensunterschreitung" (Ermessensnichtgebrauch) zur Rechtswidrigkeit des Haftungsbescheids, nicht aber zu seiner Nichtigkeit. Eine Ermessensunterschreitung liegt auch vor, wenn das FA in seiner Begründung Erwägungen anstellt, aus denen sich ergibt, dass es zu Unrecht davon ausgegangen ist, dass es in der Ermessensausübung beschränkt sei. Eine Ermessensunterschreitung liegt auch vor, wenn das FA in seiner Begründung keine Ausführungen zum Auswahlermessen abgibt bzw. fälschlich davon ausgeht, eine solche Entscheidung gar nicht treffen zu müssen.
Rz. 39
Zur Begründung der Entscheidung müssen die festgestellten Tatsachen, die der Ermessensausübung zugrunde liegen, dargestellt werden . Die Ermessensentscheidung ist fehlerhaft, wenn die Finanzbehörde bei ihrer Entscheidung Gesichtspunkte rechtlicher oder tatsächlicher Art nicht berücksichtigt, die für die Ermessensausübung von Bedeutung sind. Für die Ermessensausübung unerhebliche Gesichtspunkte müssen nicht ermittelt werden.
Rz. 40
Die im Rahmen einer jeden Ermessensentscheidung zu berücksichtigenden Billigkeitsgesichtspunkte, soweit sie im Einzelfall bekannt und von Bedeutung sind, sind in einer Weise zu erörtern, die erkennen lässt, dass die Behörde sich mit diesen Gesichtspunkten im Rahmen ihrer Erwägungen befasst hat. Bloße floskelhafte Begründungen, dass die Inanspruchnahme billig und zweckmäßig sei, reichen nicht aus.