6.5.2.1 Grundsatz
Rz. 64m
Eine Ausübung des Ermessens durch die Finanzbehörde kommt nur in Betracht, wenn der Haftungsanspruch nicht durch Anmeldung, Nachmeldung, Anerkenntnis oder Aufhebung des Nachprüfungsvorbehalts festgesetzt wird. Ermessensabwägungen sind nur dann erforderlich, wenn bei Nachforderungen ein Haftungsbescheid ergeht. Für die Ermessensausübung ist zu unterscheiden zwischen dem Handlungsermessen und dem Auswahlermessen .
6.5.2.2 Handlungsermessen
Rz. 64n
Das der Finanzbehörde nach § 191 Abs. 1 AO eingeräumte Handlungsermessen wird durch § 42d Abs. 5 EStG eingeschränkt. Hiernach ist von der Nachforderung abzusehen, wenn die Steuernachforderung oder die Haftungsforderung insgesamt 10 EUR nicht übersteigt (Bagatellgrenze). Soweit die Rechtsauffassung vertreten wird, dass § 173 Abs. 2 AO nicht direkt anwendbar ist , muss der Rechtsgedanke dieser einschränkenden Regelung im Interesse des Rechtsfriedens zumindest im Bereich des Handlungsermessens berücksichtigt werden, wenn nach einem aufgrund einer LSt-Außenprüfung ergangenen Haftungsbescheid eine weitere Inanspruchnahme des Haftungsschuldners beabsichtigt ist.
6.5.2.3 Auswahlermessen
Rz. 64o
Für die Auswahl zwischen mehreren Haftungsschuldnern s. Rz. 47. Die Finanzbehörde hat beim Zusammentreffen einer Arbeitgeberhaftung und der Haftung eines Dritten ihr Auswahlermessen zu begründen. Die Haftung für eine festgesetzte LSt-Haftungsforderung wird durch den Steuerabzugscharakter nicht beeinflusst, sondern richtet sich nach den allgemeinen Haftungsnormen.
§ 42d Abs. 3 EStG bestimmt, dass der haftende Arbeitgeber und der schuldende Arbeitnehmer (unechte) Gesamtschuldner sind. Daraus folgt das Auswahlermessen der Finanzbehörde zwischen den Gesamtschuldnern . Die Ermessensausübung ist spätestens in der Einspruchsentscheidung zu begründen. )
Die Formulierung des § 42d Abs. 3 EStG ist allerdings missverständlich . Die Regelung beschränkt nicht die ESt-Pflicht der Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit gem.§ 2 Abs. 1 Nr. 4 i. V. m. § 19 EStG,odass die Inanspruchnahme des Arbeitnehmers durch Ansatz der Einkünfte im ESt-Bescheid bzw. in einem ESt-Änderungsbescheid auch keine Ermessensentscheidung ist. Das Auswahlermessen besteht nur hinsichtlich einer LSt-Nachforderung vom Arbeitnehmer, wenn diese nicht ordnungsgemäß angemeldet worden ist. Diese Nachforderung vom Arbeitnehmer, die rechtlich der Festsetzung einer Vorauszahlung auf die ESt entspricht, ist ausgeschlossen, wenn für das betreffende Kalenderjahr eine ESt-Veranlagung durchgeführt worden ist.
Für die LSt-Nachforderung beim Arbeitnehmer wird der Grundsatz, dass sich die Finanzbehörde im Rahmen des Auswahlermessens zunächst an den Steuerschuldner und nur sekundär an den Haftungsschuldner halten sollte, in den Fällen des Steuerabzugs vom Arbeitslohn und vom Kapitalertrag umgekehrt. Die Haftungsschuld überlagert praktisch an die Stelle der Steuerschuld. I. d. R. ist hier der Abzugspflichtige in Anspruch zu nehmen.
§ 42d Abs. 3 S. 4 EStG bestimmt als verbindliche Regelung für die Ermessensausübung, dass der Arbeitnehmer nur in Anspruch genommen werden kann, wenn der Arbeitgeber die LSt nicht vorschriftsmäßig vom Arbeitslohn einbehalten hat und der Arbeitnehmer weiß, dass der Arbeitgeber die einbehaltene LSt nicht vorschriftsmäßig angemeldet hat und diesen Sachverhalt dem FA nicht unverzüglich mitteilt.
Soweit hiernach noch Raum für die Geltendmachung des Haftungsanspruchs bei beiden Gesamtschuldnern ist, hat eine Ermessensausübung unter Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten stattzufinden. Vgl. H 42d.1 – Ermessensausübung – LStH.