4.1 Vorrang des § 2 AO
Rz. 8
Nach gesetzgeberischer Vorstellung soll § 2 AO klarstellen, dass gem. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG unmittelbar geltendes innerstaatliches Recht den normalen Steuergesetzen vorgeht. Diese Vorstellung geht jedoch fehl, weil § 2 Abs. 1 AO als Bestimmung des einfachen Bundesrechts keinen allgemeinen Vorrang von Völkervertragsrecht vor den innerstaatlichen Steuergesetzen zu begründen vermag. Allenfalls könnte der § 2 Abs. 1 AO die Subsidiarität der nationalen Steuergesetze gegenüber Doppelbesteuerungsabkommen und anderen völkerrechtlichen Verträgen im Steuerrecht anordnen.
Eine Klarstellung kann hier allerdings nur in der Form einer "regelnden" Klarstellung angenommen werden. Gesetze, die eine völkerrechtliche Vereinbarung nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG übernehmen, sind i. d. R. einfache Bundesgesetze, die allerdings zusätzlich von der Wirksamkeit der völkerrechtlichen Vereinbarung abhängig sind (s. Rz. 17). Diese Gesetze kann der Gesetzgeber ändern oder aufheben. Der völkerrechtliche Vertrag hindert dies nicht, einen entgegenstehenden Grundsatz gibt es nicht, sofern nicht allgemeine Regeln des Völkerrechts betroffen sind. § 2 AO kann deshalb insoweit nicht die klarstellende Wiedergabe der bestehenden Rechtslage bedeuten. Die Vorschrift ist selbst nur einfaches Bundesrecht. Sie kann daher nicht bewirken, dass eine bundesgesetzliche Änderung der durch ein Transformationsgesetz Bundesrecht gewordenen Vorschrift ein Vorrang eingeräumt wird. Haben völkerrechtliche Verträge den Rang (einfacher) Bundesgesetze, können sie entsprechend dem "lex posterior"-Grundsatz durch spätere, ihnen widersprechende Bundesgesetze verdrängt werden.
4.2 Verhältnis des EU-Rechts zum innerstaatlichen Recht
Rz. 9
Die Regelungen des EU-Rechts und das deutsche Recht sind zwei getrennte Rechtskreise. Ihnen kommt wegen des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG ein Vorrang gegenüber dem nationalen Recht zu. Die Bestimmung des § 2 AO ist insoweit ohne Bedeutung.
4.3 § 2 Abs. 1 AO als Auslegungsregel
Rz. 10
Der Inhalt der Verträge über Besteuerungsfragen, der nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG unmittelbar geltendes innerstaatliches Recht geworden ist, genießt regelmäßig Vorrang vor normalen innerstaatlichen Steuergesetzen, weil er als spezielleres Recht vorgeht. Im Einzelfall ist nicht immer klar, ob die Regel eines innerstaatlichen Steuergesetzes spezieller oder ebenso speziell, aber neuer ("lex posterior") ist als die übernommene Vertragsregelung. In § 2 Abs. 1 AO wird geregelt, dass in diesen Fällen das Vertragsrecht vorgeht. Die Vorschrift beschränkt damit die Grundsätze "lex specialis derogat legi generali" und "lex posterior derogat legi priori" dadurch, dass sie in das Verhältnis mehrerer Gesetzesvorschriften eingreift und dem Vertragswillen damit Vorrang verschafft. Da sie selbst nur Teil eines einfachen Gesetzes ist, kann jedoch ihre Wirkung nicht darüber hinausgehen. Sie kann jederzeit durch ein einfaches Gesetz ganz oder nur hinsichtlich ihrer Wirkung auf das Verhältnis zwischen zwei Vorschriften aufgehoben werden. Einer Änderung des völkerrechtlichen Vertrags bedarf es deswegen hierzu nicht.
Rz. 11
Wegen der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG folgt daraus für § 2 Abs. 1 AO, dass sich eine abkommensüberschreibende Norm gegenüber einem DBA nur durchsetzen kann, wenn ein entsprechender Überschreibungswille (z. B. durch die Formulierung "ungeachtet des Abkommens" deutlich zum Ausdruck gebracht wird. Dadurch soll die unbeabsichtigte Überschreibung eines DBA verhindert werden.
Rz. 12
Bislang nicht abschließend geklärt ist die Frage eines Anwendungsvorrangs für nachfolgende völkerrechtliche Verträge. Nach richtiger Auffassung kann die abkommensdurchbrechende Wirkung nicht an der zeitlichen Abfolge der Verträge festgemacht werden. Es muss aber der Wille zur Überschreibung klar erkennbar sein.
4.4 Treaty Override
Rz. 13
Ein ...