Rz. 35
Die Befugnisse der Fahndung bei der Tätigkeit im Aufgabenbereich nach § 208 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO ergeben sich aus den Bestimmungen des Strafverfahrens- bzw. Ordnungswidrigkeitenrechts, die diese Tätigkeit regeln, sowie aus der Erweiterung durch § 404 AO. Die Fahndung nimmt die polizeilichen Aufgaben (s. Rz. 3) mit polizeilichen Befugnissen wahr. Wegen der einzelnen Maßnahmen wird auf die Erl. zu § 404 AO verwiesen.
Rz. 36
Voraussetzung für den Beginn strafrechtlicher Ermittlungen sind nach § 152 Abs. 2 StPO zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer verfolgbaren Straftat. Dieser im strafrechtlichen Sprachgebrauch als Anfangsverdacht bezeichnete Verdacht muss also auf konkreten Tatsachen beruhen. Durch welche Umstände die Fahndung Kenntnis von den Tatsachen erlangt, ist ohne Bedeutung. Anlass für die Verdachtsschöpfung können Anzeigen, Selbstanzeigen oder sonstige dienstliche Wahrnehmungen des Amtsträgers sein.
Die bekannt gewordenen Tatsachen müssen es "nach den kriminologischen Erfahrungen als möglich erscheinen lassen, dass eine verfolgbare Straftat vorliegt", also dass der objektive Tatbestand der Straftat erfüllt ist. Es genügt insofern eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Tatbestandserfüllung, die durchaus noch gering sein kann. Der Einleitung steht auch nicht entgegen, dass noch keine Erkenntnisse hinsichtlich des Vorsatzes vorliegen. Ob die Verwirklichung des Straftatbestands schuldhaft erfolgt ist, ist im Ermittlungsverfahren aufzuklären.
Der Verdacht braucht nicht hinreichend i. S. v. § 203 StPO zu sein, d. h., eine spätere Verurteilung braucht aufgrund der bekannten Tatsachen nicht wahrscheinlich zu sein.
Der Verdacht muss sich gegen den Beschuldigten als Tatbeteiligten der Straftat richten. Allerdings braucht der Beschuldigte noch nicht identifiziert zu sein. Die Einleitung kann auch gegen unbekannte Tatbeteiligte erfolgen.
Der für die Einleitung des Strafverfahrens erforderliche Anfangsverdacht ist abzugrenzen von der Vermutung strafrechtlich relevanten Verhaltens. Eine bloße, sich aus den Sachverhaltsumständen ergebende Vermutung rechtfertigt die in der Einleitung des Strafverfahrens zumeist liegende psychische Belastung des Betroffenen nicht. Solche Vermutungen können allenfalls Anlass für Vorfeldermittlungen sein (s. Rz. 23).
Rz. 37
Nach § 152 Abs. 2 StPO ist die Staatsanwaltschaft "verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen", und nach § 160 Abs. 1 StPO den Lebenssachverhalt, der dem Verdacht zugrunde liegt, zu ermitteln. Diese Rechtspflicht zur Strafverfolgung – im strafrechtlichen Sprachgebrauch als Legalitätsprinzip bezeichnet – gilt nicht nur für die Staatsanwaltschaft, sondern für alle Strafverfolgungsorgane einschließlich ihrer Ermittlungspersonen, also auch für die Fahndung.
Das Legalitätsprinzip wird demgegenüber nicht durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt. Das hieraus allgemein resultierende Verbot des Übermaßes staatlichen Handelns gilt für die Einleitung des Strafverfahrens nicht. Die Fahndung darf also nicht von der Durchführung strafrechtlicher Ermittlungen absehen, weil schon durch die Ermittlungshandlungen schwere Nachteile für den Betroffenen entstehen könnten (s. auch Rz. 8). Eine Güterabwägung kann allein aus kriminaltaktischen Gründen Einfluss auf den tatsächlichen Beginn der Ermittlungshandlungen haben. Dies darf allerdings nicht dazu führen, dass eine strafrechtliche Verfolgungsverjährung eintritt. Die Strafverfolgungsorgane haben vielmehr aufgrund des Legalitätsprinzips behebbare Verfahrenshindernisse zeitgerecht zu beseitigen.
Die durch das Legalitätsprinzip begründete Rechtspflicht zur Strafverfolgung bewirkt, dass die Fahndung die erforderlichen Ermittlungsmaßnahmen zu treffen hat. Die Ermittlungsmaßnahmen haben den Beginn des Strafverfahrens zur Folge. Die Einhaltung des Legalitätsprinzips wird strafrechtlich gesichert durch den Straftatbestand der Strafvereitelung, wonach die absichtliche oder wissentliche Vereitelung der Strafverfolgung auch durch Amtsträger der Strafverfolgungsorgane bzw. durch Ermittlungsbeamte mit Freiheitsstrafe und/oder Geldstrafe geahndet wird.
Rz. 37a
Demgegenüber ist die Verfolgung von Steuerordnungswidrigkeiten gem. § 47 OWiG im Einzelfall in das pflichtgemäße Ermessen der Behörde gestellt. Diese Ermessensentscheidung hat allerdings nicht die Fahndung, sondern die Finanzbehörde i. S. v. § 386 Abs. 1 AO zu treffen (s. Rz. 53).