1 Allgemeines

 

Rz. 1

§ 230 AO enthält in seinem Abs. 1 die Ablaufhemmung der Zahlungsverjährungsfrist. Danach ist die Verjährung gehemmt, solange der Anspruch wegen höherer Gewalt innerhalb der letzten sechs Monate der Verjährungsfrist nicht verfolgt werden kann. Die Hemmung tritt daher nur ein, wenn die höhere Gewalt in den letzten sechs Monaten der Verjährungsfrist eintritt oder in diesem Zeitraum noch fortbesteht. Vorher eintretende höhere Gewalt, deren Wirkungen nicht in die letzten sechs Monate hineinreichen, haben keine Wirkung auf den Lauf der Verjährungsfrist.

§ 230 Abs. 2 AO macht den Ablauf der Zahlungsverjährungsfrist darüber hinaus vom Ablauf der Festsetzungsfrist für den betroffenen Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis abhängig.

 

Rz. 2

§ 230 Abs. 1 AO beinhaltet die Regelung des § 230 AO vor seiner Ergänzung durch das JStG 2022.[1] Sein Regelungsinhalt gleicht § 171 Abs. 1 AO. Als Vorbild diente dabei § 206 BGB.[2] Die Regelung hat nur in Ausnahmesituationen Bedeutung.[3]

 

Rz. 2a

In der Praxis bedeutender dürfte die mit dem JStG 2022[4] eingefügte Regelung des § 230 Abs. 2 AO sein. Diese Regelung begründet eine Abhängigkeit der Zahlungsverjährungsfrist vom Lauf der Festsetzungsfrist. Die Regelung gilt nach Art. 97 § 14 Abs. 6 EGAO für alle am 21.12.2022 noch nicht abgelaufenen Zahlungsverjährungsfristen.

Eine bei Inkrafttreten der Rechtsänderung bereits eingetretene Zahlungsverjährung wird nicht durchbrochen.[5]

Mit dem Wachstumschancengesetz wurde § 230 Abs. 2 S. 1 AO im Wortlaut modifiziert[6], ohne dass dies eine materielle Änderung mit sich brachte.[7] Dass Art. 97 § 14 Abs. 7 EGAO eine Geltung der Neufassung der Norm des § 230 Abs. 2 S. 1 AO "erst" für alle am 28.3.2024 noch nicht abgelaufenen Zahlungsverjährungsfristen vorsieht, ist angesichts der Tatsache, dass es sich lediglich um eine klarstellende und nicht konstitutive Gesetzesänderung handelt, ohne praktische Auswirkung.

[1] Jahressteuergesetz 2022 v. 16.12.2022, BGBl I 2022, 2294.
[2] Heuermann, in HHSp, AO/FGO, § 230 AO Rz. 2.
[3] Günther, AO-StB 2022, 21, 23.
[4] Jahressteuergesetz 2022 v. 16.12.2022, BGBl I 2022, 2294.
[5] Baum, in eKommentar, § 230 AO Rz. 9.
[6] Gesetz zur Stärkung von Wachstumschancen, Investitionen und Innovation sowie Steuervereinfachung und Steuerfairness (Wachstumschancengesetz) v. 27.3.2024, BGBl I 2024, Nr. 108, 18.
[7] BT-Drs. 20/8628, 176.

2 Hemmung durch höhere Gewalt (Abs. 1)

2.1 Höhere Gewalt

 

Rz. 3

"Höhere Gewalt"[1] ist ein außergewöhnliches Ereignis, das unter den gegebenen Umständen auch durch äußerste, nach der Lage der Sache durch den Betroffenen zu erwartende Sorgfalt nicht verhindert werden kann und das die Geltendmachung des Anspruchs während der Verjährungsfrist sowie die Unterbrechung der Verjährungsfrist nach § 231 AO unmöglich macht. Das geringste eigene Verschulden des Gläubigers schließt höhere Gewalt aus.[2] Dementsprechend muss durch die höhere Gewalt, die die Aufgabenwahrnehmung der Finanzbehörden einschränkt, die Möglichkeit den Ablauf der Zahlungsverjährungsfrist hemmende Maßnahmen zu ergreifen, objektiv unmöglich geworden sein. Ist dies in einer solchen Situation deshalb unterblieben, weil die Finanzbehörde sich für die Wahrnehmung vorrangiger Aufgaben entschieden hat, tritt die Verjährungshemmung nach § 230 AO nicht ein.[3] Der Tatbestand ist nur erfüllt, wenn die verjährungshemmende Maßnahme infolge des Ereignisses der höheren Gewalt unter keinen Umständen hätte vorgenommen werden können.[4]

 

Rz. 4

Neben dem eigenen Mitverschulden des Gläubigers selbst, muss er sich auch das Mitverschulden seines Vertreters zurechnen lassen.[5]

 

Rz. 5

Als höhere Gewalt kommen in Betracht Krieg, Naturkatastrophen, Unfall, plötzlich eintretende Krankheit, die jede Vorsorge verhindert, u. U. auch unrichtige Rechtsbelehrung durch die Finanzbehörde. Höhere Gewalt soll im Einzelfall auch in einer verzögerten oder gescheiterten Postbeförderung zu sehen sein können.[6] Dem wird man m. E. aber nur in ganz außergewöhnlichen Sachverhaltskonstellationen folgen können. Zudem wird man auch in diesem Fall ein Mitverschulden desjenigen, der die Postbeförderung in Auftrag gegeben hat, an der verzögerten oder gescheiterten Zustellung ausschließen müssen.

Unkenntnis und unrichtige Rechtsauffassung sind grundsätzlich keine höhere Gewalt, auch nicht, wenn sie auf einem Ereignis beruhen, das höhere Gewalt darstellt. Beruht z. B. die Unkenntnis auf Vernichtung von Unterlagen durch höhere Gewalt, ist die Verjährung nicht gehemmt.[7]

 

Rz. 6

Die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Stpfl. stellt für sich gesehen keine höhere Gewalt dar.[8] Vielmehr unterbrechen erst Handlungen während des Insolvenzverfahrens nach § 231 Abs. 1 Nr. 4 ff. AO die Zahlungsverjährung. Allerdings wird man die Anfechtung einer erfolgten Steuerzahlung durch den Insolvenzverwalter im Insolvenzverfahren gegenüber dem FA als höhere Gewalt ansehen müssen, da dieses bis zur Rechtskraft des Anfechtungsurteils nicht handlungsfähig ist.[9]

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