Rz. 14
Nach § 235 Abs. 1 S. 1 AO "sind" hinterzogene Steuern zu verzinsen. Die Anwendung des § 235 AO setzt eine vollendete Steuerhinterziehung voraus. Bei unstreitigem Vorliegen einer Steuerhinterziehung hat die Behörde kein Ermessen. Die Behörde kann daher nicht auf Hinterziehungszinsen verzichten; eine dem entgegen stehende tatsächliche Verständigung ist unwirksam.
2.1 Vollendete Steuerhinterziehung
Rz. 15
Hinterzogen sind Steuern, wenn der Tatbestand des § 370 AO erfüllt ist, die Tat rechtswidrig und vorsätzlich schuldhaft begangen worden ist. Es müssen also zunächst die objektiven und subjektiven Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung vorliegen. Die Tat ist rechtswidrig, wenn für die in § 370 AO aufgezählten Handlungen oder Unterlassungen kein Rechtfertigungsgrund gegeben war. Beim Vorliegen eines solchen Rechtfertigungsgrundes besteht kein Zinsanspruch aus § 235 AO. Die Steuerhinterziehung muss ferner vorsätzlich begangen worden sein. Dabei reicht ein indirekter Vorsatz (Inkaufnahme der Verkürzung) aus. Bei fehlender Schuld liegt keine Steuerhinterziehung vor.
Rz. 16
Die Tat muss vollendet sein, d. h. die Verkürzung der Steuer (Festsetzung bzw. Zahlung geschah nicht, nicht in voller Höhe oder nicht rechtzeitig, § 370 Abs. 4 S. 1 AO AO) muss bereits eingetreten bzw. der Steuervorteil gewährt oder belassen worden sein. Dabei kann auch ein Vorauszahlungsbetrag an Steuern Gegenstand der Steuerhinterziehung sein. Die vollendete Tat betrifft dann die Verkürzung des Vorauszahlungsbetrags.
Zu den einzelnen Tatbestandsmerkmalen, die durch Tun oder Unterlassen verwirklicht werden können, sowie zu den übrigen Voraussetzungen und den in der Praxis vorkommenden Fällen der Steuerhinterziehung vgl. die Erl. zu § 370 AO.
Das gilt auch für ESt auf Einkünfte aus Kapitalvermögen für Veranlagungszeiträume vor 1993. Als Steuerhinterziehung können auch nach Aufhebung des VSt auch Steuerhinterziehungen strafrechtlich weiter verfolgt werden. Damit ist auch die Festsetzung von Hinterziehungszinsen in diesen Fällen weiterhin zulässig.
Ein – durch § 370 Abs. 2 AO unter Strafdrohung gestellter – Versuch einer Steuerhinterziehung reicht für § 235 AO nicht aus.
Rz. 17
Die Schuldunfähigkeit eines noch nicht vierzehnjährigen Kindes oder wegen seelischer Störungen erlaubt ebensowenig die Annahme einer Hinterziehung i. S. d. § 235 AO wie die Schuldausschließungsgründe, z. B. die Unzurechnungsfähigkeit, der Irrtum über Tatumstände, der unvermeidbare Verbotsirrtum und der entschuldbare Notstand. Ein Jugendlicher, also eine Person zwischen 14 und 18 Jahren, ist schuldfähig. Er ist zwar gem. § 3 JGG strafrechtlich nur dann verantwortlich, wenn er zur Tatzeit nach seiner geistigen und sittlichen Entwicklung reif genug war, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Die vorsätzliche Steuerhinterziehung eines Jugendlichen reicht als Hinterziehung für § 235 AO auch dann aus, wenn der Jugendliche nach § 3 S. 1 JGG nicht verantwortlich ist. Persönliche Strafausschließungsgründe hindern dagegen nicht das Entstehen der Hinterziehungszinsen.
Im Falle einer strafbefreienden Selbstanzeige gem. § 371 Abs. 3 AO tritt Straffreiheit nur ein, wenn u. a. die Hinterziehungszinsen innerhalb angemessener Zeit entrichtet werden. Auch insoweit ist daher die vorläufige Festsetzung von Zinsen erforderlich; ansonsten muss Einspruch oder Widerspruch eingelegt werden.
Rz. 18
Ist die Haupttat der Steuerhinterziehung aus irgendeinem Grund (z. B. mangels Schuldfähigkeit des Haupttäters) nicht vorsätzlich schuldhaft begangen worden, so kommen trotz der Strafbarkeit eines Anstifters oder Gehilfen über § 29 StGB Hinterziehungszinsen nicht zum Ansatz, da "hinterzogene Steuern" nicht gegeben sind. In den Fällen der Mittäterschaft und der mittelbaren Täterschaft sind dagegen Steuern hinterzogen.
Rz. 19
Qualifizierungen der Steuerhinterziehung bei einem besonderen schweren Fall sowie der gewerbsmäßige, gewaltsame und bandenmäßige Schmuggel begründen ebenfalls eine Verzinsung nach § 235 AO. Dagegen enthalten die anderen Steuerstraftaten wie der Bannbruch, die Wertzeichenfälschung, die Begünstigung und die Steuerhehlerei keine Steuerhinterziehung und schließen daher Hinterziehungszinsen aus. Lässt sich im Einzelfall nicht feststellen, ob die Person eine Steuerhinterziehung oder eine Steuerhehlerei begangen hat, so ist zwar strafrechtlich Bestrafung im Weg der Wahlfeststellung möglich. Hinterziehungszinsen scheiden jedoch hier mangels eindeutiger Feststellung einer Steuerhinterziehung aus.