Rz. 113
Beim Bestehen eines zwingenden öffentlichen Interesses ist ein Offenbaren bzw. eine Verwertung geschützter Daten ebenfalls zulässig. Eine Begriffsbestimmung für das zwingende öffentliche Interesse ist in der AO wiederum nicht enthalten. Die Unsicherheit bei der Auslegung dieses Begriffs, der schon seit langem während der Geltungsdauer der RAO erhebliche Schwierigkeiten bereitete und großen Schwankungen unterlag, bleibt daher aufrechterhalten. Der Begriff "zwingend" und die im Gesetz genannten Beispiele verdeutlichen jedoch hinreichend, dass an ein "zwingendes" öffentliches Interesse erhebliche Anforderungen zu stellen sind. Der Gesetzgeber hat allerdings in den Buchst. a–c des Abs. 4 Nr. 5 beispielhaft wichtige Fälle aufgezählt, bei denen ein zwingendes öffentliches Interesse "namentlich" besteht. Mit der Anpassung des § 30 AO an die DSGVO hat der Gesetzgeber diese Fallbeispiele deutlich erweitert (s. dazu im Einzelnen Rz. 114 ff.). Diese Fälle müssen bei der Einstufung aller anderen, nicht besonders angesprochenen Fälle als Richtschnur herangezogen werden. Ein zwingendes öffentliches Interesse ist danach über den Kreis der im Gesetz aufgeführten Fälle hinaus nur dann gegeben, wenn das Offenbaren zur Abwehr einer schweren Gefahr für das allgemeine Wohl notwendig ist. Die Annahme eines zwingenden öffentlichen Interesses ist aus verfassungsrechtlichen Gründen sehr restriktiv auszulegen, um dem Grundsatz der Normenklarheit und der Vorhersehbarkeit noch zu genügen. Vgl. zur Mitteilung zum Zweck der Gewerbeuntersagung Rz. 125.
Zur Auslegung des zwingenden öffentlichen Interesses bei Deliktsverwirklichungen – insbesondere bei Amtsträgern – siehe Rz. 85 und 86, sowie Rz. 126 und 126a. Weniger gewichtige öffentliche Interessen als die nach Buchst. a–c reichen für die Zulässigkeit eines Offenbarens oder Verwertens nach der ratio des Gesetzes nicht aus. Deshalb erlauben nur vergleichbare oder stärkere öffentliche Interessen ein Offenbaren oder Verwerten. In der Vergangenheit unter der Geltung des § 22 RAO getroffene Auslegungen können daher nicht ohne Weiteres übernommen werden, sondern sind an den aktuellen Vergleichsfällen zu messen. Diese Auslegung des § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO erscheint zwingend, ihre Bedeutung relativiert sich jedoch, wenn die Entwicklungsgeschichte der Buchst. a–c herangezogen und ihre auslegungsbedürftige Fassung berücksichtigt wird. Politisch motivierte pauschale Offenlegungsinteressen genügen den Anforderungen an ein zwingendes öffentliches Interesse für sich gesehen jedenfalls nicht. Dies gilt auch dann, wenn ein öffentliches Interesse, wie zum Beispiel bei der Identifizierung von Personen, die sich als "Reichsbürger" gerieren, unzweifelhaft gegeben ist. Auch hier müssen weitere Merkmale hinzutreten, um das zwingende öffentliche Interesse im Einzelfall zu begründen.
Ein allgemeines öffentliches Nachrichteninteresse genügt nicht, ebenso wenig ein Interesse der Strafverfolgungsbehörde an einer generalpräventiven Wirkung der Offenbarung anhand des konkreten Einzelfalls. Vielmehr bedürfte es für die Bejahung eines zwingenden öffentlichen Interesses i. S. d. § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO zur Mitteilung geschützter Daten an die Presse zunächst jedenfalls eines Sachverhalts, an dem ein erkennbares Informationsinteresse der Öffentlichkeit besteht. Dabei bietet der unbestimmte Rechtsbegriff des zwingenden öffentlichen Interesses den notwendigen Raum, der verfassungsrechtlich gewährleisteten Pressefreiheit Rechnung zu tragen und die spezifischen Umstände des Einzelfalls in geeigneten Fällen angemessen abzuwägen. Ein nur privates Interesse kann kein zwingendes öffentliches Interesse sein. So kann das private Folgeinteresse an der Strafverfolgung eines anderen nicht die Offenlegung dessen steuerlicher Verhältnisse gegenüber dem privat Interessierten rechtfertigen.
Allerdings kann privates Interesse naturgemäß im Einzelfall (unschädlich) mit bestehendem zwingendem öffentlichem Interesse zusammenfallen.
Die Reichweite der Offenbarungs- oder Verwertungsbefugnis bei Bestehen eines zwingenden öffentlichen Interesses richtet sich danach, wie das erstrebte Ziel bei möglichst weit gehendem Schutz der grundsätzlich geheimzuhaltenden Verhältnisse erreicht werden kann. Das bedeutet u. U. ein nur ausschnittweises Vorlegen von Akten.