Rz. 96
§ 30 Abs. 4 Nr. 2a AO enthält die Durchbrechung des bundesgesetzlich geregelten Steuergeheimnisses durch das Recht der EU. Die Vorschrift wurde mit Wirkung vom 25.5.2018 in die Regelung zum Steuergeheimnis eingefügt. Diese Gesetzesänderung stellt keine unmittelbare Anpassung an die Anforderungen der DSGVO dar. Die Regelung schien wegen der Anpassung des Begriffs "Gesetz" in "Bundesgesetz" in der Öffnungsnorm des § 30 Abs. 4 Nr. 2 AO erforderlich.
Während die Abgrenzung des Bundesgesetzes vom Landesgesetz nur deklaratorischen Charakter hatte und in der Vergangenheit immer wieder auftretende "Begehrlichkeiten der Landesgesetzgeber und -gerichte" beendete (vgl. Rz. 90), wirkte die Einschränkung des Begriffs auf Bundesrecht in § 30 Abs. 4 Nr. 2 AO hinsichtlich des Ausschlusses von EU-Recht vermeintlich konstitutiv. Dieses wird nunmehr von der Regelung der Nr. 2 nicht mehr umfasst. Es bedurfte deshalb – zumindest im Interesse der Rechtsklarheit – einer gesonderten Regelung zur Einschränkung des Steuergeheimnisses auch durch EU-Recht. Eine direkte räumliche Nähe dieser Regelung zur Öffnungsklausel durch Bundesrecht lag dabei auf der Hand.
Rz. 97
Soweit nunmehr ausdrücklich die Zulässigkeit der Offenbarung oder Verwertung geschützter Daten durch das Recht der Europäischen Union vorgeschrieben oder zugelassen wird, hat der Gesetzgeber in § 30 Abs. 4 Nr. 2a AO davon abgesehen, zu regeln, dass diese Öffnung in der Norm ausdrücklich erfolgen muss. Dies ist auch konsequent. Während vom Bundesgesetzgeber in Erfüllung der Anforderungen der Nr. 2 die ausdrückliche Zulassung der Öffnung des Steuergeheimnisses verlangt werden kann und diesem so auch bewusst sein muss, in dieses hohe Rechtsgut einzugreifen, ist dieses Erfordernis hinsichtlich des EU-Rechts schlicht nicht normierbar. Wie die Gesetzesbegründung zutreffend ausführt, kann der deutsche Gesetzgeber der EU keine derartige Bedingung auferlegen.
Die EU-Rechtssetzung hat verschiedene nationale Rechte zu beachten. Zugleich greift sie – soweit sie wirksam erfolgt – in das nationale Recht ein und ändert dies. Konsequent hat der Bundesgesetzgeber in § 1 Abs. 1 S. 2 AO deklaratorisch geregelt, dass die AO nur vorbehaltlich des Rechts der Europäischen Union anwendbar ist. Schon dies steht dem Gebot einer ausdrücklichen Benennung eines Eingriffs in den Regelungsbereich des § 30 AO entgegen. Zudem stellt § 30 Abs. 4 Nr. 2a AO angesichts des § 1 Abs. 1 S. 2 AO auch seinerseits nur eine ergänzende deklaratorische Regelung dar.
Rz. 98
Als EU-Recht sind nur verbindliche Rechtsakte der EU zu verstehen. § 30 Abs. 4 Nr. 2a AO bezieht sich dementsprechend nur auf EU-Verordnungen, für die Mitgliedstaaten der EU verbindliche Durchführungsbestimmungen oder sonstige, in den Mitgliedsstaaten unmittelbares Recht setzende Rechtsakte. Richtlinien der EU führen dagegen nicht über § 30 Abs. 4 Nr. 2a AO zu einer Öffnung des Steuergeheimnisses, sondern erst durch die Transformation der Richtlinie in ein Bundesgesetz über § 30 Abs. 4 Nr. 2 AO.
Rz. 98a
Ein wesentlicher Anwendungsbereich des § 30 Abs. 4 Nr. 2a AO soll in der Offenbarungsbefugnis gegenüber der zuständigen Stelle bei Bekanntwerden von Verstößen gegen die sogenannte europäische Embargo-Verordnung bestehen. Doch hier ist Vorsicht geboten. Nicht jede "Embargovorschrift der EU" ist tatsächlich unmittelbar anwendbares Recht. So erstreckt sich etwa die Iran-Embargo-VO der EU lediglich auf Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Lieferung von verbotenen Gütern. Dagegen beruhen die Waffenlieferungsembargos auf Beschlüssen des Rates der EU, die keine unmittelbare Rechtswirkung entfalten. Vielmehr sind die Mitgliedstaaten nach Art. 29 AEUV verpflichtet, diese Beschlüsse zu Standpunkten der EU in nationales Recht zu übertragen. In Deutschland erfolgt diese Umsetzung bei Waffenembargos durch Änderungen der Außenwirtschaftsverordnung (AWV). Die Offenbarungsbefugnis bei Waffenlieferungen in Embargofällen ergibt sich – anders als ggf. bei den damit zusammenhängenden Dienstleistungen – also nicht aus § 30 Abs. 4 Nr. 2a AO i. V. m. einer europäischen Embargo-VO. Soweit Regelungen in den §§ 74ff. AWV getroffen wurden, bzw. werden, ergibt sich die Offenbarungsbefugnis aus § 30 Abs. 4 Nr. 1 AO, da die Überwachung des grenzüberschreitenden Warenverkehrs nach § 2a Abs. 2 S. 2 AO legal als Verfahren in Steuersachen definiert ist.
Bei anderweitiger Umsetzung in nationales Recht kann sich die Offenbarungsbefugnis aus § 30 Abs. 4 Nr. 2 AO i. V. m. dem einschlägigen Bundesgesetz ergeben. Alternativ – oder in Fällen, in denen die Umsetzung in die AWV (noch) nicht erfolgt ist – könnte sich bei Embargoverstößen durch Waffenlieferungen eine Befugnisnorm zur Offenbarung aus § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO ergeben.