Rz. 21
Nach § 354 Abs. 1a AO kann auf die Einlegung eines Einspruchs insoweit verzichtet werden, soweit Besteuerungsgrundlagen für ein Verständigungs- oder ein Schiedsverfahren nach einem Vertrag i. S. d. § 2 AO von Bedeutung sein können.
Die durch das Gesetz zur Bekämpfung des Missbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts mit Wirkung ab dem 30.12.1993 eingefügte Vorschrift lässt also in bestimmten Fällen ausnahmsweise einen Teilverzicht auf einen Einspruch zu.
Rz. 22
§ 367 Abs. 2 S. 1 AO verpflichtet die Finanzbehörde nach der Einlegung eines Einspruchs stets zur Überprüfung der Sache in vollem Umfang. Der Einspruch richtet sich also regelmäßig gegen den gesamten Regelungsinhalt des angefochtenen Verwaltungsakts. Zu einer inhaltlichen Beschränkung auf bestimmte Besteuerungsgrundlagen durch die Begründung des Einspruchs kommt es demgemäß grds. nicht. Folglich kann auf den Einspruch im Normalfall auch nur vollständig verzichtet werden.
Rz. 23
§ 354 Abs. 1a AO sieht von diesem Grundsatz eine ausdrückliche Ausnahme vor, "soweit Besteuerungsgrundlagen für ein Verständigungs- oder ein Schiedsverfahren nach einem Vertrag i. S. d. § 2 AO von Bedeutung sein können".
Als solche Verständigungs- bzw. Schiedsverfahren kommen insb. die in Art. 25 OECD-MA (und § 89a AO) sowie in der EU-Schiedskonvention geregelten Streitbeilegungsverfahren in Betracht. Ebenfalls erfasst sein dürfte die Streitbeilegung nach dem EU-DBA-SBG Dieses setzt – wie sein Name es zum Ausdruck bringt – eine EU-Richtlinie um und beruht damit auf einer europarechtlichen Grundlage und den Vorgaben des AEUV. Ob in der AEUV oder gar in der Richtlinie ein "Vertrag i. S. d. § 2 AO" gesehen werden kann, ist zwar umstritten.
Allerdings dürften § 354 Abs. 1a (und Abs. 1b) AO jedenfalls analog zur Anwendung kommen, weil ansonsten eine Regelungslücke bestünde, die vom Gesetzgeber nicht gewollt sein kann. Denn nach § 18 Abs. 5 S. 1 EU-DBA-SBG wird die abschließende Entscheidung der zuständigen Behörden aufgrund des Streitbeilegungsverfahrens nur umgesetzt, sofern der Stpfl. gegenüber der zuständigen Finanzbehörde der Bundesrepublik Deutschland auf die Einlegung von Rechtsbehelfen gegen die Steuerbescheide für den Fall verzichtet, dass die Ergebnisse des Streitbeilegungsverfahrens zutreffend umgesetzt werden. Das Gesetz enthält somit – ähnlich wie § 89a Abs. 3 S. 1 Nr. 2 AO (s. dazu auch die Ausführungen in Rz. 50) – eine Anordnung darüber, wann die Finanzbehörde die getroffene Entscheidung umsetzen darf. Eine Regelung, die dem Stpfl. erlaubt, einen entsprechenden Teilverzicht auf seinen Einspruch zu erklären, sieht dies damit m. E. aber nicht vor.
Rz. 24
Regelmäßig können die zwischenstaatlichen Verständigungs- und Schiedsverfahren neben dem innerstaatlichen Einspruchs- oder Klageverfahren durchgeführt werden.
Nationale Rechtsbehelfsverfahren sind aber zur Erreichung des Ziels, eine internationale Doppelbesteuerung zu vermeiden, nur bedingt geeignet, weil die nationalen Finanzbehörden und -gerichte die DBA autonom und ohne grenzüberschreitende Koordination anwenden. Daher bieten die DBA mit dem Verständigungsverfahren ein alternatives verfahrensrechtliches Instrument zur Bereinigung von Besteuerungskonflikten an. Bleibt die Durchführung eines solchen Verständigungsverfahrens erfolglos, sehen einige DBA darüber hinaus die Durchführung eines internationalen Schiedsverfahrens zur Streitbeilegung vor. Die EU-Schiedskonvention ermöglicht abkommensberechtigten Stpfl. die Möglichkeit eines Schiedsverfahrens für den Bereich der Verrechnungspreise. Die im Rahmen dieser Streitbeilegungsverfahren getroffenen Ergebnisse stehen jedoch regelmäßig unter dem Vorbehalt, dass der betroffene Stpfl. auf die Einlegung eines Einspruchs oder die Erhebung einer Klage verzichtet oder einen bereits eingelegten Einspruch oder eine bereits erhobene Klage zurücknimmt.
Um einerseits die endgültige Wirksamkeit der Vereinbarungen nicht durch die langen Bearbeitungszeiten von Einspruchs-, Klage- und Revisionsverfahren zu verzögern, andererseits aber den Rechtsschutz bezüglich anderer, die Verständigungs- oder Schlichtungsvereinbarung nicht betreffender Streitfragen zu gewährleisten, sieht § 354 Abs. 1a AO in solchen Fällen ausnahmsweise den teilweisen Verzicht auf einen Einspruch vor.
Rz. 25
Der Teilverzicht auf den Einspruch ist nach § 354 Abs. 1a AO nur möglich, "soweit" Besteuerungsgrundlagen für ein Verständigungs- oder Schiedsverfahren von Bedeutung sein können. Er ist also gegenständlich begrenzt und ausschließlich hinsichtlich der für das Verständigungs- oder Schiedsverfahren bedeutsamen Besteuerungsgrundlagen zulässig.
Rz. 26
Nach § 354 Abs. 1a S. 2 AO ist die "Besteuerungsgrundlage, auf die sich der Verzicht beziehen soll, genau zu bezeichnen". Fehlt es an einer zweifelsfreien Bestimmung der Besteuerungsgrundlage, ist der Teilverzicht nicht wirksam.
Rz. 27–30 einstweilen frei