3.4.1.1 Grundlagen
Rz. 61
Art. 103 Abs. 2 GG verbietet die Rückwirkung von Gesetzen für den Bereich der Strafbarkeit. Strafrechtliche Unrechtsfolgen dürfen dementsprechend nicht auf ein Gesetz gestützt werden, das im Zeitpunkt der Tatbegehung noch nicht galt. Durch diese Regelung ist der Bürger dagegen geschützt, dass zu seinen Lasten rückwirkend gesetzliche Regelungen erlassen werden, die in irgendeiner Weise die materielle Strafbarkeit eines Verhaltens betreffen, sei es auf der Tatbestands-, Rechtswidrigkeits- oder Schuldebene, im Hinblick auf persönliche Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgründe oder auf der Rechtsfolgenseite bei Strafzumessung und Strafen.
Da sich Art. 103 Abs. 2 GG auf gesetzliche Bestimmungen bezieht, schließt er hingegen nicht aus, dass die Rechtsprechung ihre Beurteilung bestimmter Sachverhalte ändert und dadurch den Täter rückwirkend belastet. Der Bürger hat folglich keinen Anspruch darauf, dass die Rechtsprechung eine zur Tatzeit für ihn günstige Gesetzesinterpretation bis zu seiner Aburteilung unverändert beibehält. Dies gilt selbst dann, wenn die Rechtsprechung – wie man dies z. B. bei der Promillegrenze annehmen könnte – gesetzesergänzenden Charakter hat. Das Vertrauen auf eine bestimmte Rechtsprechung kann allerdings im Hinblick auf das Vorliegen eines Verbotsirrtums Bedeutung erlangen (vgl. Rz. 111ff.).
Rz. 62
Bei § 2 StGB handelt es sich um eine Konkretisierung des in Art. 103 Abs. 2 GG sowie in § 1 StGB enthaltenen Rückwirkungsverbots. Nach § 2 Abs. 1 StGB bestimmen sich die Strafe (s. 139) und ihre Nebenfolgen (s. Rz. 140) nach dem Gesetz, das zzt. der Tat gilt. Das Gesetz i. S. d. § 2 StGB ist das einzelne Strafgesetz, nicht die Rechtsordnung in ihrer Gänze. Es ist somit auf die im jeweiligen Fall anwendbare einzelne Vorschrift abzustellen. § 2 StGB gilt hingegen nicht für Verfahrensrecht oder eine Änderung einer (bislang) feststehenden Rechtsprechung.
Nach § 8 StGB ist der Zeitpunkt der Tat derjenige, zu dem der Tatbeteiligte (s. Rz. 74ff.) gehandelt hat oder im Fall des Unterlassens hätte handeln müssen (s. Rz. 56ff.). Wann der Taterfolg (s. Rz. 18) eintritt, ist hiernach für die Strafbarkeit unerheblich. Allerdings ist bei Erfolgsdelikten (s. Rz. 52) der Taterfolg nach § 78a StGB Anknüpfungspunkt für die Strafverfolgungsverjährung (s. Rz. 167ff.).
3.4.1.2 Änderung des Gesetzes
Rz. 63
Maßgeblich für die Bestrafung ist gem. § 2 Abs. 2 StGB bei einer Gesetzesänderung während der Begehung der Tat der Zeitpunkt der Tatbeendigung (s. Rz. 74); auch insoweit ist der Zeitpunkt des Erfolgseintritts ohne Bedeutung. § 2 Abs. 2 StGB ist somit nur anwendbar, wenn sich die Strafandrohung während der fortdauernden oder fortgesetzten Tatbegehung mildert oder verschärft. Dies ist insb. bei sog. Dauerdelikten anwendbar, wie z. B. beim Hausfriedensbruch oder der Freiheitsberaubung, bei denen der Täter einen rechtswidrigen Zustand durch eine tatbestandsmäßige Handlung herbeiführt und diesen dann über einen gewissen Zeitraum aufrechterhält oder fortdauern lässt, sodass die Straftat erst mit der Beseitigung des rechtswidrigen Zustands beendet ist.
Wird das Gesetz, das bei der Tatbeendigung gilt, hingegen zwischen dem Zeitpunkt der Tatbeendigung und dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geändert, so weicht § 2 Abs. 3 StGB vom Tatzeitprinzip ab. Vielmehr ist nach dem sog. Meistbegünstigungsprinzip das jeweils mildeste Gesetz anzuwenden, das zwischen der Tat und der Entscheidung gilt oder gegolten hat. Dies gilt selbst, wenn es nur vorübergehend galt. Hier kommt es darauf an, welche Regelung in dem zu entscheidenden Einzelfall nach dessen besonderen Umständen für den Täter die mildeste Beurteilung gestattet.
Wenn das Gesetz in Elementen sowohl zugunsten als auch zuungunsten des Täters geändert wird, so entscheidet der gesamte Rechtszustand, von dem die Strafe abhängt. Es ist daher nicht zulässig, jeweils den milderen Teil des alten und des neuen Gesetzes anzuwenden.
3.4.1.3 Zeitgesetze
Rz. 64
Die Milderungsmöglichkeit nach § 2 Abs. 3 StGB bei einer Gesetzesänderung ist nach § 2 Abs. 4 StGB grundsätzlich nicht anzuwenden, wenn das anzuwendende Gesetz nur für eine bestimmte Zeit gelten soll. Zeitgesetze i. d. S. sind zunächst Gesetze, die zu einem bestimmten Ereignis außer Kraft treten, aber auch Gesetze, die erkennbar als vorübergehende Regelung für bestimmte zeitbedingte Verhältnisse gedacht sind. Eine während der Geltungsdauer des Zeitgesetzes begangene Straftat ist nach § 2 Abs. 4 StGB auch ...