3.7.1 Allgemeines
Rz. 105
Ausgesprochen komplex und umstritten ist die strafrechtliche Behandlung von Fällen, in denen sich der Täter oder Teilnehmer in einem Irrtum befindet, in denen also die Wirklichkeit und seine Vorstellung auseinanderfallen. Bezieht sich die Fehlvorstellung von der Wirklichkeit auf strafrechtlich erhebliche Umstände, so kann dies erhebliche Bedeutung erlangen, worauf an dieser Stelle jedoch nur mit Bezug auf die Steuerhinterziehung und in den grundlegenden Strukturen eingegangen werden kann.
In einem ersten gedanklichen Schritt ist zu unterscheiden zwischen dem Irrtum und dem sog. umgekehrten Irrtum. Bei dem (einfachen) Irrtum handelt es sich um einen Irrtum zugunsten des Täters. Er liegt vor, wenn sich der Täter eine Lage vorstellt, die für ihn günstiger ist als die Wirklichkeit. Der (einfache) Irrtum kann im Steuerstrafrecht insbesondere als vorsatzausschließender Tatumstandsirrtum (vgl. Rz. 107) oder als Verbotsirrtum (vgl. Rz. 111) anzusehen sein, wobei die Abgrenzung zwischen diesen beiden Irrtümern umstritten ist (vgl. Rz. 112f.).
Im Gegensatz dazu handelt es sich beim umgekehrten Irrtum um einen Irrtum zuungunsten des Täters. Er liegt vor, wenn die vom Täter vorgestellte Lage ungünstiger ist, als die Wirklichkeit. Der umgekehrte Irrtum führt zum Versuch oder zum (straflosen) sog. Wahndelikt (vgl. Rz. 115).
Rz. 106
Im Steuerstrafrecht kommt im Rahmen der Irrtumslehre die größte Bedeutung der Unterscheidung von Tatumstands- und Verbotsirrtum zu, da ihre Rechtsfolgen erheblich voneinander abweichen. Der Irrtum über einen Tatumstand schließt nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB den Tatvorsatz aus (vgl. zum Vorsatz Rz. 27ff.). In Betracht kommt folglich nur noch eine Bestrafung aus einem Fahrlässigkeitsdelikt. Mangels Strafbarkeit der fahrlässigen Steuerhinterziehung kommt deshalb allenfalls eine leichtfertige Steuerverkürzung gem. § 378 AO infrage.
Im Gegensatz dazu beseitigt der Verbotsirrtum nicht den Vorsatz, sondern er betrifft die Schuld. Gem. § 17 Satz 1 StGB handelt der Täter ohne Schuld und ist mithin straflos, wenn er nicht erkennen konnte, dass er rechtswidrig handelt (vgl. Rz. 111ff.).
Da der Vorsatz sich auf alle Tatumstände beziehen muss, liegt ein vorsatzausschließender Irrtum nach § 16 StGB immer dann vor, wenn der Täter einen Tatumstand nicht gekannt hat, der zur Erfüllung eines Tatbestandsmerkmals erforderlich ist. Der Verbotsirrtum kommt dagegen erst in Betracht, wenn kein vorsatzausschließender Irrtum vorliegt (vgl. Rz. 111ff.).
3.7.2 Tatbestandsirrtum
Rz. 107
Der Vorsatz muss sich auf alle Tatbestandsmerkmale erstrecken (vgl. Rz. 27ff.). Kennt der Täter bei Begehung der Tat die tatsächlichen Umstände nicht, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, so handelt er nicht vorsätzlich und kann allenfalls wegen fahrlässiger bzw. leichtfertiger Begehung (vgl. Rz. 38f.) der Tat belangt werden.
Ein den Vorsatz ausschließender Tatbestandsirrtum i. S. d. § 16 StGB liegt somit vor, wenn der Tatbeteiligte aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht erkennt, dass seine Angaben unrichtig oder unvollständig sind oder ein Verkürzungserfolg eintreten kann. Dies wäre zu bejahen, wenn der Täter irrig davon ausgeht, dass seine Angaben zutreffend seien, obwohl er z. B. eine Einnahme vergessen hat, und es aufgrund dieser objektiv falschen Angaben zum Erlass eines falschen Steuerbescheids kommt. In diesem Fall ist der Tatbestand des § 370 AO nicht erfüllt.
Rz. 108
Erkennt der Täter jedoch später, dass seine Angaben falsch waren, so trifft ihn die Berichtigungspflicht gem. § 153 AO. Unterlässt er die unverzügliche Korrektur, so macht er sich einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen schuldig.
Rz. 109
Befindet sich der Tatbeteiligte in einem Irrtum über den Inhalt der steuerrechtlichen Regelung und nimmt er an, dass die von ihm vorgenommene steuerliche Behandlung korrekt war, so befindet er sich ebenfalls in einem Tatbestandsirrtum. Hat der Tatbeteiligte dagegen das Bewusstsein der steuerlichen Relevanz der Einnahmen oder ist davon auszugehen, dass er dieses Bewusstsein aufgrund seiner individuellen Fähigkeiten und Vorbildung entwickeln konnte, ist ein Tatbestandsirrtum zu verneinen. Außerdem ist ein steuerlich und rechtlich nicht beratener Tatbeteiligter verpflichtet, sich in Zweifelsfällen zu erkundigen und fachliche Informationen einzuholen, insbesondere bei einem wichtigen möglicherweise steuerrechtlich relevanten Vorgang. Anderenfalls sind dem Tatbeteiligten die billigende Inkaufnahme des Taterfolgs und damit auch ein bedingter Vorsatz vorzuwerfen.
Rz. 110
Befindet sich der Täter in einem Irrtum über die Pflicht zum Handeln, nimmt er also an, dass eine gesetzliche Handlungspflicht nicht besteht und begeht demgemäß eine pflichtwidrige Unterlassung i. S. v. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO, so ist ebenfalls ein den Vorsatz ausschließender Tatbestandsirrtum zu bejahen.
Nimmt der Täter demgegenüber irrig Tatumstände an, die nicht gegeben sind, so fehlt es trotz des vollen Vorsatzes an der Tatbestandsmäßigkeit. Eine vollen...