Rz. 105
Ausgesprochen komplex und umstritten ist die strafrechtliche Behandlung von Fällen, in denen sich der Täter oder Teilnehmer in einem Irrtum befindet, in denen also die Wirklichkeit und seine Vorstellung auseinanderfallen. Bezieht sich die Fehlvorstellung von der Wirklichkeit auf strafrechtlich erhebliche Umstände, so kann dies erhebliche Bedeutung erlangen, worauf an dieser Stelle jedoch nur mit Bezug auf die Steuerhinterziehung und in den grundlegenden Strukturen eingegangen werden kann.
In einem ersten gedanklichen Schritt ist zu unterscheiden zwischen dem Irrtum und dem sog. umgekehrten Irrtum. Bei dem (einfachen) Irrtum handelt es sich um einen Irrtum zugunsten des Täters. Er liegt vor, wenn sich der Täter eine Lage vorstellt, die für ihn günstiger ist als die Wirklichkeit. Der (einfache) Irrtum kann im Steuerstrafrecht insbesondere als vorsatzausschließender Tatumstandsirrtum (vgl. Rz. 107) oder als Verbotsirrtum (vgl. Rz. 111) anzusehen sein, wobei die Abgrenzung zwischen diesen beiden Irrtümern umstritten ist (vgl. Rz. 112f.).
Im Gegensatz dazu handelt es sich beim umgekehrten Irrtum um einen Irrtum zuungunsten des Täters. Er liegt vor, wenn die vom Täter vorgestellte Lage ungünstiger ist, als die Wirklichkeit. Der umgekehrte Irrtum führt zum Versuch oder zum (straflosen) sog. Wahndelikt (vgl. Rz. 115).
Rz. 106
Im Steuerstrafrecht kommt im Rahmen der Irrtumslehre die größte Bedeutung der Unterscheidung von Tatumstands- und Verbotsirrtum zu, da ihre Rechtsfolgen erheblich voneinander abweichen. Der Irrtum über einen Tatumstand schließt nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB den Tatvorsatz aus (vgl. zum Vorsatz Rz. 27ff.). In Betracht kommt folglich nur noch eine Bestrafung aus einem Fahrlässigkeitsdelikt. Mangels Strafbarkeit der fahrlässigen Steuerhinterziehung kommt deshalb allenfalls eine leichtfertige Steuerverkürzung gem. § 378 AO infrage.
Im Gegensatz dazu beseitigt der Verbotsirrtum nicht den Vorsatz, sondern er betrifft die Schuld. Gem. § 17 Satz 1 StGB handelt der Täter ohne Schuld und ist mithin straflos, wenn er nicht erkennen konnte, dass er rechtswidrig handelt (vgl. Rz. 111ff.).
Da der Vorsatz sich auf alle Tatumstände beziehen muss, liegt ein vorsatzausschließender Irrtum nach § 16 StGB immer dann vor, wenn der Täter einen Tatumstand nicht gekannt hat, der zur Erfüllung eines Tatbestandsmerkmals erforderlich ist. Der Verbotsirrtum kommt dagegen erst in Betracht, wenn kein vorsatzausschließender Irrtum vorliegt (vgl. Rz. 111ff.).