Rz. 107
Der Vorsatz muss sich auf alle Tatbestandsmerkmale erstrecken (vgl. Rz. 27ff.). Kennt der Täter bei Begehung der Tat die tatsächlichen Umstände nicht, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, so handelt er nicht vorsätzlich und kann allenfalls wegen fahrlässiger bzw. leichtfertiger Begehung (vgl. Rz. 38f.) der Tat belangt werden.
Ein den Vorsatz ausschließender Tatbestandsirrtum i. S. d. § 16 StGB liegt somit vor, wenn der Tatbeteiligte aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht erkennt, dass seine Angaben unrichtig oder unvollständig sind oder ein Verkürzungserfolg eintreten kann. Dies wäre zu bejahen, wenn der Täter irrig davon ausgeht, dass seine Angaben zutreffend seien, obwohl er z. B. eine Einnahme vergessen hat, und es aufgrund dieser objektiv falschen Angaben zum Erlass eines falschen Steuerbescheids kommt. In diesem Fall ist der Tatbestand des § 370 AO nicht erfüllt.
Rz. 108
Erkennt der Täter jedoch später, dass seine Angaben falsch waren, so trifft ihn die Berichtigungspflicht gem. § 153 AO. Unterlässt er die unverzügliche Korrektur, so macht er sich einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen schuldig.
Rz. 109
Befindet sich der Tatbeteiligte in einem Irrtum über den Inhalt der steuerrechtlichen Regelung und nimmt er an, dass die von ihm vorgenommene steuerliche Behandlung korrekt war, so befindet er sich ebenfalls in einem Tatbestandsirrtum. Hat der Tatbeteiligte dagegen das Bewusstsein der steuerlichen Relevanz der Einnahmen oder ist davon auszugehen, dass er dieses Bewusstsein aufgrund seiner individuellen Fähigkeiten und Vorbildung entwickeln konnte, ist ein Tatbestandsirrtum zu verneinen. Außerdem ist ein steuerlich und rechtlich nicht beratener Tatbeteiligter verpflichtet, sich in Zweifelsfällen zu erkundigen und fachliche Informationen einzuholen, insbesondere bei einem wichtigen möglicherweise steuerrechtlich relevanten Vorgang. Anderenfalls sind dem Tatbeteiligten die billigende Inkaufnahme des Taterfolgs und damit auch ein bedingter Vorsatz vorzuwerfen.
Rz. 110
Befindet sich der Täter in einem Irrtum über die Pflicht zum Handeln, nimmt er also an, dass eine gesetzliche Handlungspflicht nicht besteht und begeht demgemäß eine pflichtwidrige Unterlassung i. S. v. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO, so ist ebenfalls ein den Vorsatz ausschließender Tatbestandsirrtum zu bejahen.
Nimmt der Täter demgegenüber irrig Tatumstände an, die nicht gegeben sind, so fehlt es trotz des vollen Vorsatzes an der Tatbestandsmäßigkeit. Eine vollendete Tat ist ausgeschlossen. Vielfach wird ein sog. "untauglicher" Versuch der Tat gegeben sein. Nimmt der Täter irrtümlich Umstände an, die den Tatbestand eines milderen Gesetzes verwirklichen würden, so erstreckt sich der Vorsatz nur auf den Tatbestand des milderen Gesetzes