Dr. Karsten Webel, Dr. Wolfgang Dumke †
10.1 Steuerrechtliche Rechtsfolgen
10.1.1 Allgemeines
Rz. 248
Die tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhafte Verwirklichung des § 370 AO kann über die strafrechtliche Sanktion hinaus (s. Rz. 171) auch steuerrechtliche Folgen auslösen. Diese Rechtsfolgen treten mit der Verwirklichung ein, ohne dass eine Verurteilung wegen der Steuerhinterziehung erfolgt ist oder z. B. im Hinblick auf eine wirksame strafbefreiende Selbstanzeige nach § 371 AO nicht erfolgen darf. Für den Eintritt der steuerlichen Rechtsfolgen ist es auch unerheblich, wer die Steuer hinterzogen hat, sondern es kommt nur darauf an, dass sie hinterzogen worden ist.
Sind Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Steuerverkürzung (s. Rz. 84) gegeben, so haben die Finanzbehörde und das FG von Amts wegen zu prüfen, ob die entsprechende Schuldform, also für die Steuerhinterziehung der Vorsatz (s. Rz. 124), vorliegt. Allerdings sind sie nicht verpflichtet, nach Schuldausschließungsgründen (s. Rz. 134) zu suchen, wenn solche weder vorgetragen noch ersichtlich sind.
Rz. 249
Die Frage, ob eine Steuerhinterziehung vorliegt, ist ein Merkmal des Besteuerungstatbestands. Deren Beurteilung ist damit eine Abgabenangelegenheit i. S. d. § 347 AO; § 33 FGO, für die der Finanzrechtsweg gegeben ist. Die für die Besteuerung zuständigen Finanzbehörden und Finanzgerichte sind an die Beurteilung durch die Strafverfolgungsorgane und Strafgerichte nicht gebunden, wie auch umgekehrt die Strafverfolgungsorgane und Strafgerichte nicht an deren Feststellungen und Beurteilungen gebunden sind (s. § 393 AO Rz. 2).
Rz. 250
Für die Feststellung der Steuerhinterziehung im Besteuerungsverfahren müssen stets die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale des § 370 AO erfüllt sein. Es ist im finanzbehördlichen und im finanzgerichtlichen Verfahren für die Sachverhaltsermittlung zwar der strafrechtliche Grundsatz "in dubio pro reo" zu beachten, im Übrigen richten sich aber die Ermittlungen nach der AO bzw. FGO und nicht nach den Vorschriften der StPO. Für die Feststellung der Steuerhinterziehung ist kein höherer Grad an Gewissheit erforderlich als für die Feststellung anderer Tatsachen, für die die Finanzbehörde die Feststellungslast trifft.
Der Grundsatz "in dubio pro reo" hindert also ein FG nicht daran, aufgrund seiner Feststellungen zu der vollen Überzeugung zu gelangen, dass eine Steuerhinterziehung vorliegt. Bei nicht behebbaren Zweifeln an der Tatbestandsverwirklichung ist allerdings die Feststellung einer Steuerhinterziehung im Schätzungsweg nicht zulässig. Hängt die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts davon ab, ob eine Steuerhinterziehung vorliegt, muss das FG von ihrem Vorliegen überzeugt sein. Es ist ausschließlich § 96 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 FGO, inhaltlich mit § 261 StPO übereinstimmend, anwendbar, sodass das FG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden hat. Anders als bei einer Schätzung von Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO hat die Verletzung von Mitwirkungspflichten für die Feststellung der Steuerhinterziehung keine Bedeutung.
Die Schätzung der Höhe hinterzogener Steuern bleibt also trotz des Grundsatzes "in dubio pro reo" möglich. Allerdings schließt der Grundsatz aus, dass die Schätzung der hinterzogenen Steuern bei einer Verletzung von Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren an der oberen Grenze des für den Einzelfall zu beachtenden Schätzrahmens ausgerichtet wird.
Bei der Feststellung der Steuerhinterziehung können sich die Finanzbehörde und das FG die tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Beurteilungen des Strafgerichts zu eigen machen, wenn sie zu der Überzeugung gelangt sind, dass diese zutreffend sind. Dies gilt insbesondere dann, wenn keine substantiierten Einwendungen gegen die Feststellungen des Strafgerichts erhoben werden. Dies gilt auch, wenn die Beurteilung auf einem Geständnis beruht.