Dr. Karsten Webel, Dr. Wolfgang Dumke †
4.1 Grundlagen
4.1.1 Allgemeines
Rz. 76
Die Steuerhinterziehung ist ein Erfolgsdelikt (s. Rz. 7). Der Taterfolg der Steuerhinterziehung ist bewirkt, wenn eine Steuer verkürzt (s. Rz. 84) oder ein ungerechtfertigter Steuervorteil erlangt (s. Rz. 103) ist. § 370 AO gibt damit zwei Erfolgsvarianten vor. Beide stehen sich rechtlich gleichwertig gegenüber. Die Steuerhinterziehung ist vollendet (s. Rz. 149), sobald der erste der in § 370 AO genannten Taterfolge eingetreten ist.
Rz. 77–78 einstweilen frei
4.1.2 Steuerverkürzung – Steuervorteil
Rz. 79
Der in der Praxis überwiegend in Erscheinung tretende Taterfolg der Steuerhinterziehung (s. Rz. 76) besteht in der Steuerverkürzung. Die Abgrenzung zwischen den Begriffen Steuerverkürzung (s. Rz. 84) und Steuervorteil (s. Rz. 103) wird in Lit. und Rspr. nicht exakt vorgenommen. Auch der Gesetzgeber hat, wie das "namentlich" in § 370 Abs. 4 S. 1 AO zeigt, sich insoweit nicht um Präzision bemüht. Für die Abgrenzung ist davon auszugehen, dass der Straftatbestand der Steuerhinterziehung eine spezialisierte Form des Betrugs nach § 263 StGB ist (s. Rz. 3). An die Stelle des dortigen Taterfolgs, d. h. des "Vermögensvorteils", tritt bei der Steuerhinterziehung der "Steuervorteil". Bei diesem Ausgangspunkt muss der ungerechtfertigte Steuervorteil als Oberbegriff gesehen werden. Die Steuerverkürzung ist dann lediglich ein spezieller Steuervorteil, der durch eine unzutreffende, verspätete oder unterbliebene Steuerfestsetzung entsteht.
4.1.3 Hinterziehung einer Steuer
Rz. 80
Die Hinterziehung kann nur hinsichtlich einer Steuer begangen werden (s. Rz. 2, 3). Hierzu gehören alle Steuern, auf die die AO unmittelbar oder aufgrund einer besonderen gesetzlichen Verweisung Anwendung findet.
Der Anwendungsbereich des § 370 AO beschränkt sich also auf die bundesrechtlich oder durch EG-Recht geregelten, von Bundes- oder Landesfinanzbehörden verwalteten Steuern und die Realsteuern. Auf Verfehlungen hinsichtlich landesrechtlich geregelter Steuern ist § 370 AO nicht unmittelbar anzuwenden. Der Bundesgesetzgeber hat insoweit von seiner Gesetzgebungskompetenz keinen Gebrauch gemacht.
Die Hinterziehung von sonstigen Landes- oder Kommunalsteuern oder von KiSt kann nur dann nach § 370 AO geahndet werden, wenn und soweit die Vorschriften durch ein entsprechendes Gesetz für anwendbar erklärt werden. Zur finanzbehördlichen Strafverfolgungskompetenz der Hinterziehung von KiSt, die teilweise nur als Abgabenbetrug nach § 263 StGB zu ahnden ist, s. § 386 AO Rz. 21.
Rz. 80a
Gegenstand der Hinterziehung können grundsätzlich nur deutsche Steuern sein (s. Rz. 4; Vor §§ 369–412 AO Rz. 6), soweit sich nicht aus § 370 Abs. 6, 7 AO eine Erweiterung auf ausländische Steuern ergibt (s. Rz. 288 für ausländische Eingangsabgaben nach § 370 Abs. 6 AO).
Rz. 80b
Die Frage, ob nur eine verfassungsmäßige Steuer hinterzogen werden kann, ist umstritten. Zur Beantwortung dieser Frage ist zu differenzieren zwischen Steuergesetzen oder einzelnen blankettausfüllenden Normen (vgl. Rz. 10), die vom BVerfG für verfassungswidrig und nichtig erklärt wurden einerseits und verfassungswidrigen Normen, deren befristete Weitergeltung das BVerfG angeordnet hat andererseits. Kommt das BVerfG zu einer Nichtigerklärung, so entfällt der Steueranspruch ex tunc, sodass von vornherein kein schützenswerter Vermögensbestandteil des Staates gegeben ist und folglich eine Steuerhinterziehung nicht möglich ist. Eine etwaige Verurteilung wegen Hinterziehung einer verfassungswidrigen Steuer verletzt die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG. Stellt das BVerfG hingegen die befristete Weitergeltung einer verfassungswidrigen Norm fest, damit der Gesetzgeber in diesem Zeitraum die Möglichkeit hat, eine verfassungsgemäße Regelung zu schaffen, so ist nach zutreffender h. M. der in dieser Frist entstandene Steueranspruch auch strafrechtlich geschützt. Dies ergibt sich daraus, dass die verfassungswidrige Norm durch die befristete Weitergeltungsanordnung zu einem Zeitgesetz i. S. d. § 2 Abs. 4 StGB wird und als solches den Blanketttatbestand des § 370 AO ausfüllt. Folglich ist die Hinterziehung solcher Steuern strafbar.