Dr. Karsten Webel, Dr. Wolfgang Dumke †
4.4.1 Grundlagen
Rz. 110
Nach § 370 Abs. 4 S. 3 AO ist eine Steuer auch dann verkürzt (s. Rz. 84) und ein Steuervorteil auch dann ungerechtfertigt erlangt (s. Rz. 103), wenn "die Steuer aus anderen Gründen hätte ermäßigt oder der Steuervorteil aus anderen Gründen hätte beansprucht werden können". Die Vorschrift bewirkt, dass eine vollendete Steuerhinterziehung auch dann vorliegt, obgleich materiell-rechtlich trotz der Tathandlung kein Taterfolg (s. Rz. 76), also keine Verkürzung (s. Rz. 85), eingetreten oder der Steuervorteil (s. Rz. 103) nicht ungerechtfertigt erlangt worden ist. Es wird also der Versuch der Steuerhinterziehung ohne die Strafmilderungsmöglichkeit des § 23 Abs. 2 StGB (s. Rz. 137, 180) wie die vollendete Steuerhinterziehung bestraft. Die materiell-rechtliche Rechtslage vermag die Strafbarkeit der Tathandlung nicht zu kompensieren.
Rz. 111
Das Verständnis dieser Regelung hat mit der Zeit gewechselt. Während das RG das Kompensationsverbot in gefestigter Rspr. als Vorsatzproblem sah, hiernach sollten dem Tatbeteiligten keine Steuerminderungsgründe zugute kommen, die ihm nicht bewusst waren, sieht der BGH in § 370 Abs. 4 S. 3 AO eine Regelung zur Verfahrenserleichterung, da hierdurch das Strafgericht nicht den gesamten Steuerfall aufrollen müsse. Die Rechtsauffassungen in der Lit. variieren.
Rz. 112
Die Wirkung des § 370 Abs. 4 S. 3 AO beschränkt sich auf die Strafbarkeit (s. Rz. 110). Steuerbeträge oder Steuervorteile, die durch das Kompensationsverbot ausgeschlossen sind, sind im Rahmen der Strafzumessung zugunsten des Tatbeteiligten zu berücksichtigen, da der Steuerschaden tatsächlich geringer ist.
4.4.2 Umfang des Kompensationsverbots
Rz. 113
Der der Ahndung zugrunde zu legende Taterfolg (s. Rz. 221) wird dadurch bestimmt, dass an die Stelle der unrichtigen oder unvollständigen Angaben (s. Rz. 41) die materiell richtigen Angaben treten (s. Rz. 86). Für die Feststellung des verschuldeten Umfangs der Steuerhinterziehung sind dem Tatbeteiligten allerdings solche steuerlichen Vorteile zugute zu halten, die ihm auch ohne die Tathandlung zugestanden hätten und die mit den nicht erklärten Sachverhalten in einem unmittelbaren wirtschaftlichen Zusammenhang stehen. Dem Kompensationsverbot unterliegen jedoch solche bisher nicht geltend gemachte Sachverhalte, die der Tatbeteiligte möglicherweise im Besteuerungsverfahren noch später geltend machen könnte. Auch wenn durch diese nicht zu berücksichtigten Gründe die Steuer zu ermäßigen ist, kann das den bereits eingetretenen Erfolg nicht rückwirkend beseitigen.
4.4.3 Rechtsprechungsbeispiele
Rz. 114
Bei der USt-Hinterziehung erstreckt sich das Kompensationsverbot auf die nicht geltend gemachte Vorsteuer. Dies gilt sogar, wenn sich hieraus eine negative Zahllast ergeben würde. Dies gilt auch bei der Steuerhinterziehung durch Nichtabgabe von Steuererklärungen.
Rz. 115
Bei der ESt-Hinterziehung unterfallen nicht dem Kompensationsverbot:
- Betriebsausgaben, die mit den nicht erfassten Schwarzgeschäften in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Angeblich betrieblich veranlasste Leistungen an nicht benannte Dritte sind allerdings nur dann zu berücksichtigen, wenn sie steuerlich nach § 160 AO (s. auch Rz. 72) zu berücksichtigen wären;
- Tarifermäßigungen nach § 34 Abs. 3 EStG;
- Rückstellungen und nachzuholende Einlagen.
Rz. 115a
Bei der ESt-Hinterziehung unterfällt dem Kompensationsverbot demgegenüber der
Rz. 116
Bei der KSt-Hinterziehung, die auf der Buchung fingierter Belege mit offen ausgewiesener USt basiert, sind die bei Korrektur der unrichtigen Angaben zusätzlich geschuldete GewSt und die verkürzte USt gewinnmindernd zu berücksichtigen.