Dr. Karsten Webel, Dr. Wolfgang Dumke †
9.3.4.2.1 Zeitdauer zwischen Tat und Urteil
Rz. 231
Ein außergewöhnlich langer zeitlicher Abstand, der zwischen Tat und Urteil liegt, ist ein selbstständiger Strafmilderungsgrund, der unabhängig von der überlangen Verfahrensdauer (s. Rz. 233) besteht:
Rz. 232
- BGH v. 6.9.1988, 1 StR 473/88, NJW 1990, 57: Ein Zeitraum von 6 Jahren zwischen Beendigung der Tat und ihrer Aburteilung ist strafmildernd zu berücksichtigen.
- BayObLG v. 11.7.1994, 2 St RR 63/94, wistra 1994, 352: Ein Zeitraum von 2 Jahren und 2 Monaten führt nicht zur Strafmilderung.
9.3.4.2.2 Überlange Verfahrensdauer
Rz. 233
Unabhängig von den aus dem zeitlichen Abstand zwischen der Tat und dem Urteil resultierenden Strafmilderungsgrund (s. Rz. 231) kommt einer unverhältnismäßig langen Verfahrensdauer eine eigenständige Bedeutung zu. Hierin liegt eine rechtsstaatswidrige Verletzung des Beschleunigungsgebots (s. Rz. 228). Zweck dieses selbstständigen Strafzumessungsgrunds ist letztlich, eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK (s. Rz. 237) zu verhindern.
Rz. 234
Dieser Strafmilderungsgrund resultiert aus der psychischen Belastung, die dem Tatbeteiligten durch das Verfahren erwächst. Die Belastung kommt einer zusätzlichen Sanktion gleich, insbesondere wenn sie durch die Strafverfolgungsorgane verursacht worden ist. Allerdings kann dieser Strafzumessungsgrund auch eingreifen, wenn für die Dauer des Verfahrens sachliche Gründe gegeben sind, die von den Strafverfolgungsorganen nicht zu vertreten sind (s. Rz. 239).
Rz. 235
Welche Dauer für die Abwicklung des Strafverfahrens angemessen ist, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Bei der Fristbestimmung sind Schwere und Art des Tatvorwurfs, Umfang und Schwierigkeiten des Verfahrens sowie Art und Weise der Ermittlungen zu berücksichtigen.
Das Verbot der überlangen Verfahrensdauer betrifft nur das Strafverfahren. Dieses beginnt spätestens in dem Zeitpunkt, in dem dem Beschuldigten die Einleitung des Ermittlungsverfahrens bekannt gegeben worden ist, und endet mit dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens. Unter diesem Gesichtspunkt muss das Revisionsgericht auch prüfen, ob es die Sache noch vertretbar zurückweisen kann oder selbst entscheiden muss:
Rz. 236
- BGH v. 2.10.1983, 2 StR 413/83, wistra 1983, 255: Ein mehr als 3-jähriger Zeitraum nach Aufhebung durch den BGH bis zur zweiten landgerichtlichen Entscheidung ist unangemessen.
- BVerfG v. 19.4.1993, 2 BvR 1487/90, wistra 1993, 219: 10 Jahre und 2 Monate sind schon für sich unangemessen.
- BGH v. 21.7.1994, 1 StR 396/94, wistra 1994, 344: 2 Jahre und 3 Monate Verweildauer bei der Strafkammer sind unangemessen.
- LG Kaiserslautern v. 16.1.1998, 1 Js 1401/92 Wi. (KLs), wistra 1998, 270: Ein 3-jähriger Zuständigkeitsstreit zwischen zwei FÄ wirkt strafmildernd.
- BGH v. 7.2.2012, 1 StR 525/11, BGHSt 57, 123: Eine Gesamtverfahrensdauer von 3 ½ Jahren bis zum erstinstanzlichen Urteil stellt in Wirtschaftsstrafsachen nicht in jedem Fall einen besonders gewichtigen Milderungsgrund dar. Bei gerichtlichen Verfahren in Wirtschaftsstrafsachen bestehen gegenüber anderen Verfahren Besonderheiten, die regelmäßig den Vorrang der Gründlichkeit vor der Schnelligkeit gebieten. Die gerade in Wirtschaftsstrafsachen zur sorgfältigen Vorbereitung und Terminierung erforderliche Zeit ist folglich selbst dann nicht als Zeitraum einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung anzusehen, wenn nicht näher belegt werden kann, wie dieser Zeitraum vom Gericht genutzt wurde.
9.3.4.2.3 Verletzung des Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK
Rz. 237
Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK garantiert jedem Beschuldigten die gerichtliche Entscheidung über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage innerhalb einer angemessenen Frist. Art. 6 MRK verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland, die Gerichtsorganisation so einzurichten, dass eine Verletzung unterbleibt. Die Verletzung dieses Rechts führt nicht zur Unzulässigkeit...