Rz. 55

Nach § 371 Abs. 1 AO hat der "Selbstanzeigende" die fehlerhaften oder unterlassenen Angaben zu berichtigen oder nachzuholen. Umstritten ist, ob eine vom "Selbstanzeigenden" vorgenommene Schätzung der Besteuerungsgrundlagen eine Berichtigung i. d. S. darstellt, wenn er nicht oder nicht zeitnah in der Lage ist, die exakten Angaben zu rekonstruieren.

 
Praxis-Beispiel

Der Einzelhändler V hat in 2008 jeden Abend einen Betrag von ca. 100 EUR aus der Kasse genommen und nicht als Kasseneinnahme aufgezeichnet. Die exakten Beträge weiß er nicht mehr genau, weil er sie auch nicht aufgezeichnet hat.

Auf der Grundlage der älteren Rechtsauffassung, dass eine Berichtigung wahrheitsgemäß erfolgen müsse (Rz. 49, 52), wurde die Ansicht vertreten, dass eine "Schätzung" nicht als "Berichtigung" i. S. v. § 371 Abs. 1 AO angesehen werden könne[1]. Die Konsequenz dieser Ansicht wäre letztlich, dass nur derjenige Steuerhinterzieher eine wirksame "Selbstanzeige" einlegen könnte, der sein Fehlverhalten exakt aufzeichnet. Da es nach dem Zweck der "Selbstanzeige" aber zunächst darauf ankommt, dass eine unbekannte Steuerquelle fiskalisch erschlossen wird und auch der Wahrheitsgehalt der "Selbstanzeige" nur unter diesem Gesichtspunkt von Bedeutung ist, ist auch eine "Selbstanzeige" durch Schätzung seitens des "Selbstanzeigenden" zulässig[2]. Die "Selbstanzeige" mit geschätzten Angaben ist geboten, da eine "Selbstanzeige dem Grunde nach" nicht in Betracht kommt (Rz. 48).

 

Rz. 56

Die Zulässigkeit besteht nicht uneingeschränkt. Die Wahrheitspflicht (Rz. 52) erfordert es, dass der Anzeigende "nach bestem Wissen und Gewissen" aufgrund der ihm bekannten Umstände substantiiert ein möglichst zutreffendes steuerliches Ergebnis schätzt. Eine freie oder griffweise Schätzung ohne Grundlagen reicht hierfür aber nicht aus[3].

 

Rz. 56a

Für die "Wirksamkeit der Selbstanzeige" ist es m. E. nicht erforderlich ist, dass der "Selbstanzeigende" die Grundlagen seiner Schätzung bereits in der Erklärung darstellt, um der Finanzbehörde die Überprüfung zu ermöglichen[4]. Die "Selbstanzeige-Erklärung" (Rz. 5) muss nicht mehr Angaben enthalten, als die unrichtige Steuererklärung selbst (Rz. 40), in der ein Hinweis auf die Schätzung der Angaben auch nicht zwingend ist (§ 150 AO Rz. 7). Er muss nur in der Lage sein, bei der Überprüfung der "Selbstanzeige" seine Schätzungsmethode darzustellen.

 

Rz. 57

Eine Schätzung birgt stets eine Unsicherheit, ob auch das wahrscheinlich richtige steuerliche Ergebnis erreicht worden ist (§ 162 AO Rz. 68, 74). Dies hat aber nicht zur Folge, dass bei Anwendung einer anderen Schätzungsmethode (§ 162 AO Rz. 70) durch die Finanzbehörde ein für den Anzeigenden nachteiliges Ergebnis auch strafrechtlich relevant ist. Dies ist der Fall, wenn das unter strafrechtlichen Gesichtspunkten gefundene Schätzungsergebnis (§ 370 AO Rz. 88) von dem Schätzungsergebnis des Anzeigenden abweicht[5]. Nur dann ist die weitergehende Steuerhinterziehung strafrechtlich nachgewiesen, wobei zugunsten des Anzeigenden der Grundsatz des "in dubio pro reo" zu beachten ist.

 

Rz. 57a

Ist unter diesem Gesichtspunkt (Rz. 57) die "Selbstanzeige" unrichtig und die Schätzung des Anzeigenden zu niedrig, so soll dies nach h. M.[6] bei einer geringfügigen Fehlschätzung unschädlich sein. Wann eine "geringfügige Fehlschätzung" vorliegt, wird in der Literatur unterschiedlich bewertet. Hiernach soll ein Schätzungsfehler zwischen 6 bis 10 % nicht die Wirksamkeit der "Selbstanzeige" berühren[7]. M. E. ist diese prozentuale Betrachtungsweise nicht mit dem "Wahrheitsgebot" (Rz. 40) vereinbar[8]. Teilweise falsch wird nicht richtig, § 371 AO sieht keine Billigkeitsregelung vor. Sofern also die "Selbstanzeige" nachweislich (Rz. 57) zu niedrig ist, tritt die Straffreiheit m. E. nicht ein. Abhängig von der Größe des Fehlers und der Sorgfaltspflicht des Anzeigenden bei der Ermittlung der Schätzungsgrundlagen werden die strafrechtlichen Folgen zu bestimmen sein. Sofern man eine "Teil-Selbstanzeige" für zulässig erachtet (Rz. 53a), reduziert sich "insoweit" der strafrechtlich relevante Fehler[9]. Aber auch, wenn dies nicht der Fall ist (Rz. 54a), ist eine Strafminderung geboten und eine Einstellung des Verfahrens nicht ausgeschlossen (Rz. 16).

 

Rz. 57b

Ist unter diesem Gesichtspunkt (Rz. 57) die "Selbstanzeige" unrichtig und die Schätzung des Anzeigenden zu hoch ausgefallen, so wird hierdurch die Wirksamkeit einer "Selbstanzeige" nicht berührt. Eine Richtigstellung i. S. v. § 371 AO (Rz. 51) liegt damit auch vor, wenn aufgrund der Angaben eine höhere Steuerfestsetzung bewirkt wird, als es der materiellen Rechtslage entspricht[10].

Demgemäß ist es unter dem strafrechtlichen Aspekt stets ratsam, wenn die Besteuerungsgrundlagen geschätzt werden müssen, je nach dem Umfang der Ungewissheit einen Unsicherheitszuschlag (§ 162 AO Rz. 74) hinzuzurechnen[11]. Der Anzeigende trägt nur das steuerliche Risiko, dass er die nach § 371 Abs. 3 AO nachentrichtete Steuer (Rz. 122) nicht zurückholen kann, wenn nicht ...

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