2.3.1 Grundlagen
Rz. 62
Liegt eine ordnungsgemäße "Selbstanzeigeerklärung" nach § 371 Abs. 1 AO vor (Rz. 27ff.), so wird die Anwartschaft auf Straffreiheit nur begründet, wenn vor der Abgabe der "Selbstanzeigeerklärung" (Rz. 36) kein Ausschlussgrund nach § 371 Abs. 2 AO gegeben ist.
§ 371 Abs. 2 AO zählt vier Ausschlussgründe auf, die voneinander unabhängig sind, sodass jeder für sich geprüft werden muss, zumal der Umfang der Ausschlusswirkung jeweils unterschiedlich ist. Es können möglicherweise auch mehrere Ausschlussgründe nebeneinander gegeben sein, aber schon das Vorliegen eines Ausschlussgrunds hindert die strafbefreiende Wirkung.
Rz. 63
Der sachliche Grund für die Schaffung der Ausschlusstatbestände nach § 371 Abs. 2 AO liegt darin, dass aufgrund der in § 371 Abs. 2 AO genannten Ermittlungshandlungen die durch § 371 Abs. 1 AO bezweckte Offenbarung einer Steuerquelle (Rz. 3) wahrscheinlich nicht mehr erforderlich ist und demgemäß für die Gewährung der Straffreiheit auch kein steuerpolitischer und fiskalischer Bedarf besteht.
Rz. 64
Die Aufzählung der Ausschlussgründe in § 371 Abs. 2 AO ist abschließend. Weitere Ausschlussgründe, über die gesetzlich genannten hinaus, gibt es nicht. Insbesondere ist die Motivation für die "Selbstanzeige" ohne Bedeutung. Ein zusätzliches ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Freiwilligkeit oder der Reue als Grund für die "Selbstanzeige" ist nicht vorgesehen und darf auch nicht im Weg der Auslegung in die Vorschrift hineininterpretiert werden (Rz. 3b). Die "Selbstanzeige", die aus Angst vor einer eventuellen Entdeckung oder nach Anwendung von Zwangsmitteln erstattet wird, verliert hierdurch nicht ihre strafbefreiende Wirkung (Rz. 3a).
Rz. 64a
Die Auslegung der Ausschlussgründe ist abhängig davon, auf welchen Zweck des § 371 AO man den Schwerpunkt legt. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass bei Vorliegen des Ausschlussgrundes die Anwartschaft auf Straffreiheit entfällt und damit die Strafbarkeit der Steuerhinterziehung wieder begründet wird. Bei der Auslegung ist das aus Art. 103 Abs. 2 GG resultierende Analogieverbot (§ 369 AO Rz. 31, 32) zu beachten.
2.3.2 Ausschluss der Straffreiheit durch Erscheinen eines Amtsträgers der Finanzbehörde zur steuerlichen Prüfung – § 371 Abs. 2 Nr. 1a AO
2.3.2.1 Steuerliche Prüfung
Rz. 65
In der Praxis bildet die Ankündigung von steuerlichen Ermittlungshandlungen durch die Finanzbehörde den Hauptgrund für die Abgabe der "Selbstanzeigeerklärung" (Rz. 27). Die steuerliche Prüfung i. S. v. § 371 Abs. 2 Nr. 1a AO ist jede zum Zweck der gesetzmäßigen Steuerfestsetzung und -erhebung durchgeführte Ermittlungsmaßnahme der Finanzbehörde, insbesondere die Ermittlungen, die zur Nachprüfung von Angaben, die im Besteuerungsverfahren über Besteuerungsgrundlagen gemacht worden sind.
Rz. 66
Bei der steuerlichen Prüfung wird es sich i. d. R. um eine Außenprüfung nach §§ 193ff. AO handeln, wobei es für die Sperrwirkung nach § 371 Abs. 1 Nr. 1a AO unerheblich ist, ob diese turnusmäßig oder aufgrund besonderer Umstände als Sonderprüfung erfolgt. Die Außenprüfung dient der Sachverhaltsaufklärung im Einzelfall. Dies gilt auch, wenn sie zugleich zur Ermittlung von "Richtsätzen", d. h. von Branchenvergleichszahlen, dient. Eine ausschließliche Richtsatzprüfung, die nicht unmittelbar als Erkenntnisgrundlage für ein konkretes Besteuerungsverfahren dienen soll, erzeugt nicht die Sperrwirkung nach § 371 Abs. 1 Nr. 1a AO. Bei einer Steuerhinterziehung durch Finanzamtsangehörige, bei der diese ihre Befugnisse und Stellung zur Begehung der Tat missbrauchen (§ 370 AO Rz. 21, 161, 164), stellt die Überprüfung der Veranlagungsarbeiten innerhalb eines FA durch die Innenrevision der Oberfinanzdirektion eine steuerliche Prüfung durch einen Amtsträger der Finanzbehörde i. d. S. dar. Eine Selbstanzeige des Beamten nach Beginn der Innenrevision ist daher nicht strafbefreiend.
Rz. 67
Steuerliche Prüfungen i. d. S. sind aber auch alle Ermittlungshandlungen im gesamten Besteuerungsverfahren, die zur Aufklärung einzelner Sachverhalte bestimmt sind. Diese können erfolgen im Rahmen
- des Steueraufsichtsverfahrens durch Nachschau nach § 210 AO.
- der "Vorfeldermittlungen" der Steuerfahndung nach § 208 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AO zur Aufdeckung und Ermittlung unbekannter Steuerfälle (§ 208 AO Rz. 23, 39);
- des Steuerfestsetzungsverfahrens durch Augenscheinseinnahme, z. B. die "betriebsnahe Veranlagung", die Einsichtnahme ein...