Rz. 250
Die Entdeckung der Tat ist die Wahrnehmung eines bisher unbekannten Geschehens und des diesem immanenten Unrechtsgehalts. Die Entdeckung muss sich nur auf eine der unverjährten Straftaten beziehen, für die im Rahmen des sich aus dem Vollständigkeitserfordernis des § 371 Abs. 1 AO ergebenden Berichtigungszusammenhangs eine Selbstanzeige abzugeben ist. Wann i. d. S. die Tat entdeckt ist, ist umstritten. Anlass für diesen Meinungsstreit ist die Einordnung des Begriffs der Tatentdeckung.
Rz. 251
Nach einer bisher in der Literatur vertretenen Auffassung ist der Begriff einzuordnen in das System der üblichen strafprozessualen Begriffsbestimmungen zum Tatverdacht.
Ausgangspunkt ist danach der für die Einleitung eines Strafverfahrens erforderliche Tatverdacht i. S. v. § 152 Abs. 2 StPO. Dieser sog. "Anfangsverdacht" ist gegeben, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfolgbare Straftat vorliegen. Hierzu wurde teilweise die Ansicht vertreten, dass die Tatentdeckung weniger als einen Anfangsverdacht erfordere oder dass das Vorliegen eines Anfangsverdachts ausreichend sei. Diese Ansichten dürften jedoch kaum mit dem Wortsinn des Begriffs "entdecken" zu vereinbaren sein, nach dem es sich um mehr handeln dürfte, als die bloße Möglichkeit, dass eine Straftat vorliegt. Folglich dürften diese Ansichten mittlerweile überholt sein.
Rz. 252
Dementsprechend vertritt ein anderer Teil der Literatur in Übereinstimmung mit der alten Rechtsprechung die Auffassung, dass der "Anfangsverdacht" nicht für die Tatentdeckung ausreiche, und hat diesen Ausschlussgrund für die Straffreiheit enger gefasst. Hiernach ist eine Steuerstraftat nicht schon dann entdeckt, wenn Tatsachen bekannt geworden sind, die zur Einleitung von Ermittlungen Anlass geben können, sondern erst dann, wenn Anhaltspunkte bekannt sind, die bei vorläufiger Bewertung eine Verurteilung wahrscheinlich erscheinen lassen.
Die Begriffsbestimmung entspricht damit nach h. Lit. dem Inhalt des "hinreichenden Tatverdachts" i. S. v. § 203 StPO der gegeben ist, wenn eine Verurteilung aufgrund der vorläufigen Sachkenntnis typischerweise wahrscheinlich ist. Das erfordert, dass nicht nur das äußere Tatgeschehen vom Tatentdecker zumindest teilweise unmittelbar selbst wahrgenommen wurde, sondern aufgrund des wahrgenommenen Sachverhalts auf die subjektiven Tatbestandsmerkmale geschlossen worden ist. Nicht notwendig ist dagegen, dass der Tatentdecker den gleichen Grad an Überzeugung von der schuldhaften Tatbegehung erlangt, wie er für die Verurteilung vom Gericht zu gewinnen ist.
Rz. 253
Das Ergebnis dieser sehr engen Auslegung des Begriffs der Tatentdeckung ist, dass für diesen Sperrgrund danach kein nennenswerter Anwendungsbereich mehr besteht. Dies ergibt sich einerseits daraus, dass bereits der Rückschluss auf den Vorsatz der Steuerhinterziehung vorliegen muss, und andererseits daraus, dass nach h. Lit. und alten Rspr. erforderlich ist, dass die Person des Tatbeteiligten identifiziert ist. Der Name des erkannten Tatbeteiligten muss nach dieser Ansicht hingegen noch nicht bekannt sein. Nicht ausreichend ist, dass der Kreis der Tatbeteiligten nur objektiv eingrenzbar ist, z. B. durch die Betriebszugehörigkeit, oder dass der nicht identifizierte Tatbeteiligte aufgrund der objektiven Umstände des Tatgeschehens nur vorsätzlich gehandelt haben kann und Fahrlässigkeit bzw. Leichtfertigkeit ausgeschlossen zu sein scheint. Entsprechend dieser Einschränkungen wurden in der Vergangenheit nur sehr selten Fälle der Tatentdeckung angenommen.
Rz. 254
Gegenüber dem dargestellten Verständnis von dem Begriff der Tatentdeckung geht der BGH in seinem Urteil v. 20.5.2010 zutreffend davon aus, dass die Tatentdeckung ein eigenes, von den üblichen strafprozessualen Begriffsbestimmungen zum Tatverdacht unabhängiges Tatbestandsmerkmal ist, dem eine eigenständige Bedeutung zukommt. Auch hier wird das Ziel der restriktiven Anwendung des § 371 AO und damit der Öffnung der Ausschlusstatbestände (vgl. Rz. 166) deutlich, das im Hinblick auf § 371 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AO dazu führt, dass diesem Sperrgrund überhaupt ein nennenswerter eigener Anwendungsbereich zugewiesen wird.
Rz. 255
Zur Ausfüllung des Begriffs der Tatentdeckung greift der BGH auf die Rechtsprechung zurück, nach der eine Steuerstraftat erst dann entdeckt ist, wenn Anhaltspunkte bekannt sind, die bei vorläufiger Bewertung eine Verurteilung wahrscheinlich erscheinen lassen. Der BGH will diese Definition aber nicht als "hinreichenden Tatverdacht" i. S. v. § 203 StPO verstanden wissen, weil die zunächst "entdeckten" Umstände eine solche Wahrscheinlichkeitsprognose hinsichtlich der Verurteilung aufgrund des frühen Verfahrensstadiums i. d. R. gar nicht zulassen, sondern die "Tatentdeckung" erst der Anlass für die Durchführung der Ermittlungen sein soll.
Vielmehr geht der BGH zutreffend von einer zweistufigen Prognoseentscheidung aus. Zunächst ist fraglich, ob für eine Tatentdeckung e...